DAS GEFÜHL DER MINDERWERTIGKEIT
Der Mangel an natürlicher Selbstliebe
Das Gefühl der Minderwertigkeit ist ein Ausdruck einer fehlenden Beziehung zu sich selbst. Man fühlt sich klein, unbedeutend, falsch, unzulänglich, unvollkommen, wertlos, unterlegen, nicht gut genug, hilflos. Die Selbstablehnung ist verbunden mit Gefühlen der Angst, Scham oder Schuld.
Eine gesunde Selbstliebe, Selbstvertrauen und Selbstwert sind wenig oder gar nicht vorhanden und müssen immer wieder von außen bestätigt oder erkämpft werden. Dieser tägliche Kampf ist mit enormen Stress verbunden und führt zu falschen oder gar fehlenden Grenzen. Die Autonomie ist stark eingeschränkt und der Blick für die Anerkennung und Wertschätzung richtet sich nach außen anstatt nach innen.
Wenn das Gefühl der Minderwertigkeit besonders ausgeprägt ist, werden das Streben nach Macht und Überlegenheit als Kompensation oft ins Krankhafte gesteigert. Die innere Spaltung zwischen Minderwertigkeit verbunden mit einer depressiven Grundhaltung und Größenillusionen auf der anderen Seite sind ein stetiges Spannungsfeld, indem der verzweifelte Versuch unternommen wird, den eigenen Selbstwert zu regulieren.
Die fehlende Beziehung zu sich selbst führt zu einem falschen Selbsterleben. Miller nennt sie „Als-ob-Persönlichkeiten“, die eine Maske oder Fassade aufbauen. Dieses Selbst nenne ich in meiner therapeutischen Arbeit das Überlebensselbst oder das falsche Selbst. Es ist ein Überlebensmechanismus, der früh in der Entwicklung entstanden ist und aus einer mangelnden Liebe und Umsorgung oder Überbehütung in der Kindheit resultiert. In beiden Fällen wird das Kind nicht vollständig wahrgenommen und gespiegelt in seinem Wert und in seiner Würde.
Dem falschen Selbst oder Überlebensselbst steht das wahre Selbst gegenüber. In der Verbindung mit unserem wahren Selbst können wir spüren, dass wir den Wert und die Würde aus uns selbst heraus haben, ganz ohne Leistung. Diese Grundhaltung und Lebensgefühl sind Ausdruck einer stabilen Selbstverbindung und starken Autonomie. Ein liebevoller wertschätzender Blick auf sich selbst ist Teil einer gesunden Selbstwertregulation und schützt vor Überforderung, Burnout, Manipulation und emotionaler Erpressung.
Der innere Konflikt zwischen Minderwertigkeit und Größenillusionen
Unser Selbstwerterleben kann hoch oder niedrig, stabil oder instabil, sicher oder fragil sein. Wir sind stets beschäftigt unseren Selbstwert zu regulieren. Menschen mit einem gesunden Selbstwert haben ein geringeres Stresserleben, können ihre Emotionen besser regulieren, haben gesunde Grenzen und machen ihren Wert nicht von anderen abhängig.
Menschen mit einem schwachen Selbstwert erleben einen stetigen inneren Konflikt, der Ausdruck einer inneren Spaltung ist. Der innere Konflikt spiegelt sich in zwei konträren Einstellungen und Verhaltensweisen wider, die je nach Situation verleugnet werden, um die Spaltung aufrecht zu erhalten.
Minderwertigkeit
- Selbstabwertung, Selbstzweifel, Suizidgedanken
- Scham- und Schuldgefühle
- Krankheit, Hypochondrie, Schwachsein
- Einsamkeit, Leere
- Abspaltung vom Körper
- Langeweile, Monotonie
- Verlassenheitsgefühle
- Fehlende Vitalität und Lebendigkeit
- Kindliche Bedürftigkeit
- Überanpassung, Orientierung nach Außen
- Manipulation
Größenillusionen
- Perfektionismus
- Pseudoautonomie
- Leistungsorientierung, ständiges Beschäftigtsein
- Bedürfnislosigkeit
- Besonderssein
- Überanpassung, Orientierung nach Außen
- Hohe Anspruchshaltung an andere „Es ist nie genug“
- Manipulation
So schlägt das Pendel je nach Situation entweder in Richtung von Minderwertigkeitsgefühlen oder von Größenillusionen, um das Gefühl der Minderwertigkeit wieder auszugleichen. Der Mangel an Selbstwert und die damit verbundene Selbstablehnung bedeutet eine enorme Stressbelastung. Auf die Fragen, wer bist du oder wie geht es dir, können keine klare Antworten gegeben werden. Die Beziehung zu sich selbst ist brüchig oder verloren gegangen.
Der innere Konflikt äußert sich auch körperlich in Muskelverspannungen, die in der therapeutischen Arbeit sehr deutlich werden. Klienten halten den Atmen an oder atmen sehr flach, um unangenehme Gefühle zu verhindern. Brust-, Hals-, Nacken-, oder Bauchbereich werden angespannt und verhindern den lebendigen Ausdruck des Selbsterlebens.
„Ich bin nicht wert“ in zwischenmenschlichen Beziehungen
Die frühen Mangelerfahrungen führen zu einer defizitären Selbstentwicklung bzw. Autonomieentwicklung. Die kindlichen Grundbedürfnisse nach Kontakt, Spiegelung, Liebe, Vertrauen und Autonomie sind weitergehend unerfüllt geblieben. Spätere zwischenmenschliche Beziehungen sind aufgrund der Mangelerfahrungen oft spannungsgeladen, enttäuschend oder kräftezehrend. Eine gesunde Abhängigkeit in Beziehungen ist nicht umsetzbar und es zeigen sich häufiger destruktive Abhängigkeiten, die die Minderwertigkeitsgefühle weiter befeuern.
Das Gefühl der Minderwertigkeit äußert sich in der Sehnsucht nach Symbiose mit einem Menschen, der alle Ideale erfüllt. Das können Partner, Freunde, Therapeuten oder Gurus sein, auf die alle Sehnsüchte mit dem Anspruch auf Erfüllung projiziert werden. Der Wunsch nach bedingungsloser Liebe und vollkommener Spiegelung ist daher verbunden mit einer enormer Wut, unterschwelligen Aggression und Kränkung, da dies im Erwachsenenalter unerfüllbar ist. Ein Gegenüber ist immer wieder mit dem unsicheren, verletzten und fordernden Kind konfrontiert, was Beziehungen auf Augenhöhe unmöglich macht. Der Wunsch nach Einheit und Verschmelzung lässt persönlichen Unterschieden und Individualität kaum eine Chance und wird eher als eine Bedrohung als eine Bereicherung wahrgenommen.
Der Hunger nach Anerkennung lässt Menschen mit einem Minderwertigkeitsgefühl weit über ihre Grenzen hinaus gehen. Um das schwere Gefühl der Minderwertigkeit nicht zu fühlen, wird alles versucht, um von außen die Bestätigung zu bekommen, wertvoll zu sein. Dafür versucht man besonders attraktiv zu sein, mehr zu leisten als andere oder besonders nett und anpassungsfähig zu sein. In Paarbeziehungen geht damit auf Dauer die Anziehung verloren. In Arbeitsbeziehungen fehlt über kurz oder lang die Wertschätzung oder man fühlt sich ausgenutzt und ausgebrannt. Man begibt sich immer wieder in destruktive Abhängigkeiten und kommt aus der Minderwertigkeitsfalle nicht raus.
Auch Schamgefühle sind stetige Begleiter der Minderwertigkeit und führen zu schadhafter Selbstkritik, Selbstzweifel und Selbsthass. Die Scham, dass man nichts wert ist, ist ein zentrales Hindernis für persönliche Entwicklung. Da helfen auch keine positiven Affirmationen oder positives Denken. Im Gegenteil sind diese eher kontraproduktiv und führen zur Verstärkung von Minderwertigkeitsgefühlen. In zwischenmenschlichen Beziehungen führt die Selbstverletzung zu einer indirekten Arroganz anderen gegenüber, indem wir ihnen nicht zumuten, uns so zu zeigen wie wir sind, andere als zu schwach beurteilen oder sie als potentielle Selbstwert-Retter benutzen.
„Ich bin nichts wert“ führt zu allgegenwärtigen Verlassenheitsängsten und Angst vor Ablehnung. Die Aufmerksamkeit richtet sich mehr auf andere und deren Bedürfnisse als auf die eigenen Bedürfnisse. Um nicht abgelehnt oder verlassen zu werden, wird alles getan, um vermeintlich zu gefallen und andere Menschen an sich zu binden. Doch durch die fehlende Selbstakzeptanz und Überanpassung bis zum Verlust der eigenen Identität wird uns auch keine Akzeptanz von anderen zuteil und man erlebt häufig genau die Ablehnung und Abwertung, vor der man sich fürchtet. Es ist der Versuch durch Manipulation die Bestätigung zu bekommen, die man sich selbst nicht geben kann.
Die innere Überzeugung der Minderwertigkeit lässt Beziehungen wenig Chance auf wahre Liebe, Bindung und Wachstum. Ein Gegenüber wird nie den eigenen seelischen Hunger stillen können, daher ist jeder selbst dazu aufgerufen, den mit der Minderwertigkeit verbundenen seelischen Konflikt zu lösen, um die Würde und den Wert wieder aus sich selbst heraus zu spüren.
Das wahre Selbst. Die Verbindung mit sich selbst.
Um Minderwertigkeitsgefühle zu überwinden und sich als wertvoller Mensch zu fühlen, braucht es eine stabile Beziehung zu sich selbst. Die seelischen Wunden der eigenen Ablehnungen können geheilt werden und machen einen lebendigen Selbstausdruck möglich.
Die innere Spaltung zwischen Minderwertigkeit und Größenillusionen wird durch die Verbindung mit dem wahren Selbst überwunden. Im Kontakt mit uns selbst, können wir im Hier&Jetzt spüren, dass wir den Wert und die Würde aus uns selbst heraus haben, ohne etwas zu leisten. Das ist nichts, was über den Kopf gelöst werden kann. Denn wir können uns nicht einreden, dass wir wertvoll sind. Wir müssen es fühlen in jeder Faser unseres Seins. Erst dann sind wir innerlich frei und authentisch in unserem lebendigen Ausdruck.
Für die therapeutische Arbeit bedeutet das, immer wieder in Kontakt zu kommen mit sich selbst, bis eine stabile Selbstverbindung aufgebaut wurde und von den destruktiven Mustern losgelassen werden kann. Das geht nicht von heute auf morgen, da frühe schmerzvolle Bindungserfahrungen verarbeitet werden müssen und man immer wieder mit dem Prozess des emotionalen Loslassens konfrontiert ist, was in der Tiefe der Seele nicht leicht ist.
Die Verbindung mit sich selbst, dem wahren Selbst, ist verbunden mit dem Aufbau von gesunden Grenzen und einer starken Autonomie, die wiederum gesunde Beziehungen erst ermöglicht. Dazu gehören die Überwindung des Paradoxon von Nähe und Distanz sowie das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Eigenständigkeit. Daher ist es wichtig bereits in der Therapie die Erfahrung zu machen und zu lernen, anders sein zu dürfen, eine eigene Meinung haben zu dürfen ohne sich abgelehnt zu fühlen, den eigenen Bezugspunkt zu finden.
Autonomie in Beziehungen bedeutet, Unterschiede und andere Meinungen aushalten zu können, Abschied zu nehmen von der Illusion als Erwachsener bedingungslos geliebt zu werden, Auseinandersetzungen zu führen, eigene Bedürfnisse zu kommunizieren und einzufordern als auch hinten anstellen zu können, eigenverantwortlich zu handeln und eigene Entscheidungen zu treffen.
Der Aufbau und das Spüren eigener Grenzen sind zentral, um die mit der Minderwertigkeit verbundenen Kompensationsmuster und falschen Glaubenssätze zu durchbrechen. D.h. nicht mehr alles zu tun, um Anerkennung zu bekommen, differenzieren zu können, wann Leistung Sinn macht und wann es aus dem Ruder läuft, wann körperliche Grenzen erreicht sind, was eigene Bedürfnisse und der eigene Standpunkt sind.
Ein Artikel von mir für „Auf der Couch“ in der Für Sie, Ausgabe 22/2024: „Ich fühle mich von einem Umfeld nicht wertgeschätzt“
PDF zum Download Fuer-Sie-Ausgabe022_2024_Auf-der-Couch.pdf

