DAS BILD VOM GLÜCK
Unser Bild vom Glück ist geprägt von falschen Vorstellungen, Illusionen, Idealbildern und unbegrenzten Möglichkeiten. Es werden Bilder transportiert von: Eltern, die nie aus der Haut fahren und uns stets ermutigen; ausgeglichene und authentische Partnerschaften; nette verständnisvolle Nachbarn; positive motivierende Kollegen und ein Gefühlshaushalt voll mit überströmenden Glücksempfindungen. Dabei soll jedes Problem als Herausforderung betrachtet werden und die Chance sein, unser Bestes zu geben. Coaching und Persönlichkeitsentwicklung ist der Schlüssel zum Glück, so die Versprechen.
Die oft zitierte Aussage „Jeder Mensch ist seines Glückes Schmied“ ist eine relativ neue Erfindung. Es ist gefährlich und falsch. Es verliert die Realität aus dem Blick, sucht nach Schuldigen und bietet den Boden für Abwertungen und Ignoranz. Doch dieses Bild hat eine lange Geschichte. Motivationstrainer und spirituelle Gurus hämmern uns dieses Bild in bester Marketingqualität ein durch Werbeslogans, Schulungen im Management und Politik.
Das Streben nach Glück dient als Maske für den Zwang nach Optimismus und Perfektion. Lange war das Glück gegeben von außen, von einer göttlichen Instanz oder dem Schicksal. Der starke Fokus auf das Individuum ist jung in der Geschichte und wir sind die erste Gesellschaft, wo Glück als persönliche Entscheidung transportiert wird.
Weltweit gibt es mehr als 70.000 Motivationstrainer, die mit ihren Tipps und Tricks uns zu einem glücklichen Leben verhelfen wollen. Marie Kondo wurde Millionären mit Ordnungstipps. Früher haben politische Bücher die Bestsellerlisten platziert, heute sind es psychologische Themen für ein Mehr an Wohlbefinden. In den USA haben sich Bücher zum Thema Persönlichkeitsentwicklung verdreifacht. Über 80.000 verfügbare Titel transportieren dieselben Glaubenssätze und gleichen psychologischen Regeln. „Wie werde ich glücklich in 5 Lektionen.“ oder „Wie lerne ich Vertrauen in 3 Wochen.“ Damit sind sie auch ein Spiegel des gesellschaftlichen Wandels.
Dabei ist es naiv zu glauben, die Bücher könnten wirklich glücklich machen. Aber vielleicht fühlt man sich weniger allein.
Die meisten Selbsthilfe-Gurus und -Influencer erzählen dieselbe Geschichte. Sie waren früher mal ganz unten und trotzdem ist es ihnen gelungen, ihr volles Potential auszuschöpfen und zum Vorzeigemodell eines superglücklichen Menschen zu werden. Sie vermitteln, sie haben das Rezept zum Glücklichsein und wollen anderen nun auf wohlmeinende Art und Weise helfen. Die Wenigsten sind qualifiziert noch ausgebildet, womit Manipulation und Missbrauch vorprogrammiert ist.
COACHING IST EIN FLICKENTEPPICH
Coaching ist ein Flickenteppich aus verschiedenen Philosophien. Da wird Sokrates mit Buddhismus, Nitzsche, Spinoza zusammengewürfelt. Doch das Sokratische „Erkenne dich selbst“ ist genau das Gegenteil von Persönlichkeitsentwicklung. Der Blick geht nach außen, um die eigene Identität und Platz in der Welt zu finden anstatt den Blick nach innen zu richten.
Die Positive Psychologie wurde in den 90er Jahren von Martin Seligmann in die Welt gebracht. Er prägt das Idealbild des Individuums bis heute, das durch Leistung, Erfolg und Selbstoptimierung glücklich wird. Er brach mit Freud’s Lehre der Wiederholung von negativen Kindheitserfahrungen und konzentrierte sich nur auf das, was gut läuft. Eine ähnliche Konditionierung wie auch in der Verhaltenstherapie. Er hat wesentlich dazu beigetragen, dass diese Strömung ernst genommen wird und sogar in die Wissenschaft Einzug gehalten hat. Persönlichkeitsentwicklung wurde zu einer populären Version der Glückswissenschaften und kreierte einen neuen akademischen Forschungszweig. Mit der Verwissenschaftlichung wollte Seligmann erreichen, die neue Denkrichtung in Politik, Wirtschaft und Sozialwissenschaften zu etablieren, was ihm auch gelungen ist. Millardenschwere Sponsoren aus der Industrie und Politik waren die Ersten, die die positive Psychologie unterstützen und damit maßgeblich an dem Erfolg und der Verbreitung beteiligt waren.
Besonders arme Menschen in den USA erreichte der Mythos „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und „Du kannst alles schaffen“. Der amerikanische Traum verbindet Glück mit sozialem Erfolg auch heute noch. Doch die Glorifizierung der Gewinner lässt die Verlierer zu Außenseiter einer Gesellschaft werden. Die Botschaft lautet „Das du arm bist, hast du selbst entschieden.“ und lässt damit Schuldzuweisungen, Abwertungen und Missbrauch freien Lauf.
Die positive Pädagogik hält bereits schon Kinder dazu an, strikt zwischen positiven und negativen Gefühlen zu unterscheiden und das ICH in seiner Gefühlsbreite und Lebendigkeit immer weiter zu unterdrücken. Der Preis ist hoch. Selbstentfremdung, Selbstverlust und ein enormer Stress sind Ausdruck der Illusion vom Glücklichsein durch Selbstoptimierung und dem ausschließlichen Blick auf das Positive.
DER ZWANG ZUM GLÜCK
Der Zwang zum Glücklichsein führt unweigerlich zum Misserfolg und einem niedrigen Selbstwert. Denn ständiges Bewerten und Kontrollieren sind die täglichen Begleiter.“Ein guter Mensch ist gesund und glücklich“ führt zugleich zu einer moralischen Verpflichtung und Abwertung derjenigen, die es nicht schaffen.
Die Unterdrückung eigener Gefühle und Verleugnung der inneren Wahrheit sind eine massive Selbstvergewaltigung. Jeder sechste Amerikaner nimmt Pillen, um seine Gefühle zu regulieren. Die Glücksindustrie macht damit enorme Gewinne. Populäre spirituelle Lehrer und Autoren setzen mit den verschiedenen Glückskonzepten in den USA und Europa Milliarden um. Der Boom ist verständlich, denn in Zeiten der Entkörperung und Entmenschlichung sind Menschen auf der Suche und richten den Blick nach außen, um Erlösung und Freiheit zu erfahren. Dabei werden sie immer wieder mit den gleichen Mantras gefüttert und wenn das Glück sich nicht einstellt, sind sie selbst schuld oder haben einfach noch nicht genug an sich gearbeitet. Doch auch dafür gibt es wieder die „richtigen“ Produkte und so werden Abhängigkeiten schonungslos bewusst gefördert und hilfesuchende Menschen manipuliert.
Die Glücksindustrie bringt auch immer neue Managementansätze hervor, um das mentale Klima in Firmen zu pushen und das Wohlergehen der Mitarbeiter zu fördern. Doch das genaue Gegenteil ist die Realität. Der damit verbundene psychische Druck führt zu den höchsten Krankenständen seit Jahren. Immer mehr Menschen zeigen Symptome von Burnout und Resignation. Der Optimierungswahn und Zwang zum Glücklichsein führen zu Sinnleere und Selbstentfremdung. Die Kompensation sind Glückscoachings, die wiederum den Teufelskreislauf befeuern
EIN LEBEN OHNE PROBLEME GIBT ES NICHT
Wir müssen akzeptieren und anerkennen, dass es ein Leben ohne Probleme nicht gibt. Und das kann zu einer wirklichen Entlastung führen. Schluß mit dem immerwährenden Glück, dem Optimierungszwang und der damit verbundenen illusorischen Überlegenheit, Ausgrenzung und Kontaktverlust. Wichtiger ist die Frage, wie wir Problemen begegnen, wie wir sie lösen können und was wir dazu brauchen.
Das oft in den Medien und Influencern vermittelte Bild der Unbegrenztheit ist nicht nur gefährlich, sondern auch eindeutig falsch. Es ist eine Lüge. Alle Mittel und Ressourcen sind begrenzt!
Sich mit den eigenen und fremden Grenzen auseinanderzusetzen, schafft einen realitätsbezogenen Handlungsrahmen. Innerhalb dieses Handlungsrahmen erfährt der Mensch sich als selbstwirksam, was das Selbstvertrauen und den Selbstwert auf natürliche Weise stärkt. So können wir auch unsere Grenzen erweitern, indem wir dazu lernen und Neues ausprobieren.
Grenzen geben Halt, Sicherheit und Orientierung. Grenzen schaffen Identität. Sie lassen uns greifbar werden. Grenzenlosigkeit führt nirgendwo hin. Wir verlieren unsere Identität, unseren Boden, den Kontakt zu uns selbst und anderen. Denn nur eine gesunde Grenze lässt Kontakt entstehen, ermöglicht Dialoge und lässt uns als Gemeinschaft und als Mensch wachsen.
Wer weiß, wo beispielsweise seine Belastungsgrenzen liegen, kann sich besser im Job oder in der Familie einbringen und die eigene Kraft halten ohne sich selbst unnötig auszubeuten. Denn wer ständig über die eigenen Grenzen geht, ist weder Vorbild, noch kann er gut für sich selbst oder andere sorgen. Man wird zur Belastung für andere und für sich selbst. Das Anerkennen der eigenen Grenzen schafft Klarheit und öffnet den Raum für Begegnung, Kontakt und ein gesundes Miteinander.
Wer den Kontakt mit sich verloren hat, kennt weder sein Maß noch seine Grenzen und kann nicht an der richtigen Stelle „Ja“ und „Nein“ sagen. Probleme können nicht adäquat gelöst werden, da man nicht mehr erkennt, was man hat, kann oder braucht. Die Erschöpfung ist vorprogrammiert, wenn man sich an falschen Ansprüchen oder Idealbildern orientiert.
PLÄDOYER FÜR ALLE GEFÜHLE
Das Unterdrücken von in der Regel vermeintlich negativen Gefühlen, führt uns weg von uns selbst. Das Streben nach ständig positive Reizen und Gefühlen ist in Wahrheit mit einer Menge körperlichen und seelischen Stress verbunden, der auf Dauer einen enormen Schaden anrichtet. Die damit verbundene Entkörperung lässt das Glücksempfinden sogar schrumpfen bis unmöglich machen. Man jagt immer etwas hinterher, was uns nicht richtig satt werden lässt.
Wahres Glück lässt uns ruhig werden. Wir fühlen uns genährt und vollständig. Das anstrengende Streben nach Glück hört auf, da man zufrieden ist. Mit sich im Einklang sein, würdigt alle Gefühle. Sie dürfen sein, da man um die Erfahrung weiß, dass Gefühle kommen und gehen. Kein Gefühl hält ewig – weder das Glück, noch der Schmerz.
Unsere Lebendigkeit erfahren wir auf natürliche Art und Weise im Ausdruck unserer Gefühle. Gefühle sind so vielfältig und spannend zu erforschen. Sie geben so viel Auskunft über uns selbst, unsere Handlungen, unsere Wünsche und Ziele. Es geht um die Wiederbelebung der in neurotischen Prozessen verlorenen Ausdrucksfähigkeit und Wahrnehmung eigener Gefühle. Die Schulung des Gewahrseins, der körperlichen Verortung von Gefühlen und dessen Ausdruck wirkt befreiend. Endlich sich selbst spüren und zum Ausdruck kommen, lässt uns nicht nur authentisch wirken, sondern befreit von all den „Müssen“ und „Sollen“, die wir von außen aufnehmen. Unsere Gefühle lassen uns wieder lebendig werden und unsere Menschlichkeit zeigen.