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SELBSTWERDUNG – AUF DER SUCHE NACH DEM SELBST 

Die Frage nach der Selbstwerdung, ist die Frage wie wir werden, wer wir sind. Meine Erfahrungen haben mich bis heute gelehrt, dass jeder Mensch ein sehr feines Gespür hat für „Das bin ich“ und „Das bin nicht ich“.

In der therapeutischen Arbeit wird dies sofort körperlich für Klienten spürbar. Sobald Menschen wieder einen Kontakt zu sich selbst spüren, entspannt sich der Körper, Wärme bereitet sich aus, ein Lächeln zeigt sich im Gesicht, Lebensfreude und Neugier werden geweckt.

DAS WAHRE SELBST 

In den humanistischen Psychotherapien ist das Selbstkonzept geprägt von der Frage nach dem wahren Selbst. In den Online-Autonomie-Aufstellungen arbeite ich mit einem Anteil für das wahre Selbst. Manche nennen es auch den unzerstörbaren inneren Kern, Wesenskern, das höhere Selbst oder Seele. Es steht als Metapher für ein Gefühl „Das von ich“, der Stimmigkeit und von Selbstwirksamkeit. Es ist der Anteil in uns, der sich ohne Schuldgefühle abgrenzen kann und seinen Wert und seine Würde in sich trägt. 

Das wahre Selbst oder autonome Selbst drückt Bedürfnisse und Wünsche frei aus, unabhängig davon, ob es dafür geliebt wird oder nicht. Damit verbunden sind das Wahrnehmen klarer Grenzen zwischen Ich und Nicht-Ich, eine gesunde Aggression und ein gesundes Selbstwertgefühl. 

Wahre Selbst

DAS FALSCHE SELBST – DIE ENTFREMDUNG VON SICH SELBST 

Das falsche Selbst ist ein Ausdruck unserer Überlebens- bzw. Anpassungsstrategien, die uns von uns selbst wegführen. Sie sind kreative Lösungen für massive Stresserfahrungen und unerfüllte Kernbedürfnisse nach Kontakt, Resonanz, Vertrauen, Liebe und Autonomie (nach Dr. Laurence Heller) in der Kindheit.

Das falsche Selbst ist Ausdruck eines brüchigen oder fehlenden Selbstwertes. Es zeigen sich häufig ein mangelndes Selbsterleben bis hin zur Selbstentfremdung. Man kann sich selbst und zwischenmenschliche Grenzen nicht spüren, nimmt eigene Bedürfnisse nicht richtig wahr und kann somit auch keine Handlung zur Erfüllung eigener Bedürfnisse setzen. Der Blick geht nach außen, wie man sein sollte oder was man leisten muss. 

Anpassung- bzw. Überlebensstrategien:

  • Hochsensibilität
  • Durchlässige Grenzen
  • Wenig Kontakt zu Gefühlen
  • Wenig Verbindung zum Körper
  • Rationalität
  • Eiserner Wille anstatt Motivation
  • Sehnsucht nach Verschmelzung
  • Flucht in Spiritualität
  • Aufopferung für andere, Rettersyndrom
  • überzogene Nächstenliebe
  • Aufmerksamkeitssuchend, Sucht nach Anerkennung
  • Resignation (unbewusste Treue zur kindlichen Bindungsbeziehung)
  • Essen als Ersatzbefriedigung
  • Grenzen anderer nicht achten und vehemente Forderungen
  • Selbstwert wird künstlich aufgeblasen
  • Aufbau eines Ideal-Selbstbildes
  • Übernahme von Verantwortung für andere, Kontrolle auszuüben und sich mächtig zu fühlen
  • Distanziert und unnahbar
  • Hohes Einfühlungsvermögen
  • Wunsch-, Fantasie- und Traumwelten
  • Pseudo-Autonomie
  • Oppositionshaltung
  • eigene und fremde Erwartungen erfüllen, allen Recht machen
  • Vertrauen auf religiöse und spirituelle Instanzen
  • „Gutmensch“
  • andere retten wollen
  • sich bei anderen einmischen
  • Perfektionismus
  • Kontrollverhalten
  • Aktionismus
  • Funktionalität
  • Ablenkung, Verdrängung

SELBSTWERDUNG – DIE ENTSTEHUNG DES SELBST

Aus Sicht des Neurowissenschaftlers Prof. Joachim Bauer kommt ein Säugling ohne eine Selbst auf die Welt. Der Beginn der Selbstwerdung ist nach seiner Definition von dem Begriff des Selbst die Geburt und die ersten Interaktionen mit der Bezugsperson, da die neuronalen Netzwerke zum Zeitpunkt der Geburt noch unreif sind.

Aus meiner therapeutischen Arbeit und meinem Verständnis des Selbst als unser unzerstörbarer Wesenskern ist das Selbst bereits mit der Zeugung vorhanden. Und zugleich entwickelt sich unser Selbst durch die Erfahrungen im Kontakt mit unseren Bezugspersonen. Der innere Bezugspunkt eines jeden Menschen ist das wahre Selbst. Manchmal handeln wir kongruent und sind in einer guten Beziehung mit uns selbst und manchmal ist der innere Bezugspunkt nicht spürbar oder verschwommen. 

Bereits unsere pränatalen Erfahrungen über den Kontakt mit der Mutter, der Verbindung über die Nabelschnur prägen unser späteres Selbsterleben. Unsere frühkindlichen Beziehungserfahrungen sind im besonderen Maße entscheidend für unsere Selbstwerdung. Je stressbeladener die frühen Beziehungserfahrungen sind, je weniger auf unsere Bedürfnisse eingegangen wurde, je weniger wir gesehen und gehört wurden, desto schwieriger ist der Prozess der Selbstwerdung und Autonomieentwicklung. Demnach entwickeln sich schon früh Anpassungsstrategien eines falschen Selbst, dass bis zur Selbst-Enteignung führen kann. 

Die lebensnotwendigen Resonanzen der Bezugspersonen formen entscheidend die Entwicklung des Gehirns. Alles was Säuglinge erfahren, wird im neuronalen Körpergedächtnis abgespeichert und bildet die Grundlage unseres Selbst-Systems. Fehlen einem Kind ein förderndes und haltendes DU, ein sozial intelligentes und fähiges Umfeld, wird die Gehirnentwicklung massiv gehemmt und die Selbstwerdung stark eingeschränkt. 

DIE WIEDERBELEBUNG DES SELBST anstatt SELBSTOPTIMIERUNG

Der große Druck und Drang nach Selbstoptimierung, den es seit einigen Jahren zu beobachten gibt, ist Ausdruck einer fatalen Suche nach sich selbst. Es wirken mehr die Anpassungs- und Überlebensstrategien, die Menschen nach immer mehr streben lassen, ohne bei sich anzukommen oder innere Ruhe und Gelassenheit zu finden.

Die Wiederbelebung des wahren Selbst ist aus meiner therapeutischen Sicht der Angelpunkt für ein erfülltes Leben. 

Menschen brauchen Menschen. Wir sind abhängig vom DU, um ICH zu werden. Der Religionsphilosoph Martin Buber beschreibt den Prozess der Selbstwerdung, dass nur in der Begegnung mit einem Anderen der Mensch sich selbst erkennen kann. Die Gestalttherapie hat dies als Grundhaltung für sich übernommen. Daher spielt in der Gestalttherapie weniger die Anwendung von Methoden als die Haltung eine Rolle. Der Therapeut ist für sich selbst immer wieder gefordert, an sich zu arbeiten und im Einklang mit seinem wahren Selbst zum Ausdruck zu kommen. 

Die therapeutische Begegnung unterstützt in der Gestalttherapie durch die ICH-DU-Beziehung das wahre Selbst wieder spürbar werden zu lassen. Indem ich mein Gegenüber genauso achte wie mich selbst, ihm mit Augenhöhe begegne und meine Resonanzen teile, bekommt das eigene Ich wieder Konturen. Die Grenzen werden spürbar, der innere Bezugspunkt klarer und die Beziehung zu sich selbst wächst. Diese auch körperliche Erfahrung nährt das Selbst und lässt den eigenen Wert und Würde wieder spüren. 

Je mehr ein Mensch aus dem hilflosen Zustand der Kindheit entwächst und Gefühle von Sicherheit, Vertrauen und Würde spürbar werden, desto mehr wachsen auch die Fähigkeiten gut für sich selbst zu sorgen und sich in Beziehungen frei und zugehörig zugleich zu fühlen.