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Psychosomatik & Gestalttherapie

    „Nicht wir haben einen Körper, sondern wir sind ein Körper“

    Die Psychosomatik ist ein ganzheitlicher Ansatz, der die Wechselwirkungen zwischen Körper, Geist und Seele in den Mittelpunkt stellt. Als interdisziplinäres Fachgebiet beschäftigt sie sich mit dem Einfluss psychischer und sozialer Faktoren auf körperliche Prozesse und Symptome. Auch die Gestalttherapie basiert auf einem solchen ganzheitlichen Menschenbild: Sie versteht Körper, Geist und Seele als untrennbare Einheit. Dabei geht sie davon aus, dass wir nicht einfach einen Körper besitzen, sondern dass wir unser Körper sind mit allem, was wir fühlen, denken und erleben.

    Aus gestalttherapeutischer Sicht sind psychosomatische Symptome Ausdruck unterbrochener oder gestörter Kontaktprozesse. Emotionen, Bedürfnisse oder äußere Konflikte, die nicht gefühlt oder nicht ausgedrückt werden können, verlagern sich auf die körperliche Ebene. Dort tauchen sie als Symptome auf, oft als einzige Möglichkeit, auf einen inneren Konflikt aufmerksam zu machen. Die Selbstwahrnehmung ist in solchen Situationen häufig eingeschränkt. Die Verbindung zwischen körperlichem Empfinden und emotionalem Erleben geht verloren, das Zusammenspiel von Gefühl und Körpersymptom wird nicht mehr gespürt.

    Die gestalttherapeutische Arbeit zielt darauf ab, diesen Zusammenhang wieder bewusst zu machen. Durch achtsame Begleitung und ein vertieftes Wahrnehmen des körperlichen Geschehens können Symptome wieder in ihre emotionalen und lebensgeschichtlichen Kontexte eingeordnet werden. So entsteht ein vollständiger Kontakt – das, was im Leben oder in der Beziehungsgestaltung bisher offen geblieben ist, kann nun integriert und als „offene Gestalt“ geschlossen werden.

    Körperliche Symptome lassen sich in diesem Sinne als ein verstecktes Kommunikationsangebot verstehen, sie sprechen für einen inneren Raum, der bislang keine Sprache gefunden hat. Die Aufgabe der Therapeutin oder des Therapeuten besteht darin, diesen Raum verstehbar zu machen, den Sinn des Symptoms im Lebenszusammenhang der betroffenen Person zu erkennen und die dahinterliegenden dysfunktionalen Kontaktmuster gemeinsam zu erforschen. So kann Heilung nicht nur auf der körperlichen, sondern auch auf der emotionalen Ebene geschehen im Einklang mit dem ganzen Menschen.

    Wegweiser für die Psychosomatik: Retroflektion und Introjekte

    Die gestalttherapeutische Diagnostik ist prozessorientiert und richtet den Blick auf die Kontaktfunktionen, die den Austausch zwischen Individuum und Umwelt regulieren. Zwei dieser Funktionen – Retroflektion und Introjektion – gelten in der Psychosomatik als zentrale Wegweiser. Sie helfen zu verstehen, wie körperliche Symptome entstehen können, wenn der seelische Ausdruck gestört oder blockiert ist.

    Retroflektion beschreibt einen Vorgang, bei dem Energie, die eigentlich nach außen – zum Ausdruck oder in die Beziehung – fließen sollte, gegen sich selbst gerichtet wird. Anstatt Gefühle wie Wut, Ärger oder Bedürfnisse nach Abgrenzung nach außen zu kommunizieren, werden sie zurückgehalten. Introjekte hingegen sind unreflektiert übernommene Glaubenssätze oder Normen, die vom Organismus nicht aktiv geprüft oder integriert wurden. Ein Introjekt wie „Man darf nicht wütend sein“ kann den gesunden Ausdruck von Gefühlen unbewusst blockieren und den Kontakt zur eigenen Lebendigkeit behindern.

    Retroflektive Blockaden erkennen und verwandeln

    Aus gestalttherapeutischer Sicht sind viele psychosomatische Beschwerden Ausdruck einer chronisch dysfunktionalen Retroflektion. Der spontane Ausdruck von Impulsen wird aktiv zurückgehalten, die Energie bleibt im Organismus und richtet sich gegen ihn. Häufige körperliche Anzeichen für eine solche Bewegungsumkehrung sind angespannte Arme oder Fäuste, verkrampfter Kiefer, Zähneknirschen oder Magenkrämpfe. Die Symptome entstehen nicht zufällig, sie sind Ausdruck einer inneren Spaltung, eines unvollständigen Kontakts oder einer nicht gelebten Polarität. Die Folge können Selbsthass, Selbstmitleid, Selbstausbeutung oder stille Selbstaggression sein.

    Gerade bei depressiven Klient:innen zeigt sich die Retroflektion auf körperlicher Ebene in Form von Verlangsamung, Schweregefühl, Verstopfung oder Erschöpfung. Sie verharren oft in Vergangenem, in unerledigten Erlebnissen und Beziehungen, die im inneren Erleben nicht abgeschlossen sind. Die nicht gelebte Aggression richtet sich nach innen und wird als psychosomatisches Symptom spürbar, etwa in Form von Lustlosigkeit, Energiemangel oder innerer Leere.

    Bei funktionellen Störungen, etwa wenn ein Mensch nach einem Streit Bauchschmerzen bekommt, wird deutlich: Die psychische Komponente ist nicht bewusst zugänglich, doch der Körper reagiert. Der Zusammenhang zwischen der unterdrückten Wut und dem körperlichen Symptom bleibt dem Betroffenen meist verborgen, die Energie wird gegen den eigenen Organismus gerichtet.

    Introjekte wirken oft subtiler: Ein tief verankerter Glaubenssatz wie „Ich darf nicht wütend sein“ kann verhindern, dass Gefühle zugelassen und zum Ausdruck gebracht werden. Die Energie der Emotion bleibt im System gebunden, unerfüllte Bedürfnisse bleiben als „offene Gestalten“ im Organismus bestehen, sie fordern Aufmerksamkeit und Ausdruck. Ziel der gestalttherapeutischen Arbeit ist es, diese offenen Gestalten zu erkennen, die zugrunde liegenden Kontaktunterbrechungen sichtbar zu machen und in einen lebendigen Ausdruck zu bringen.

    Wo Symptom war, soll Interaktion werden – wo Interaktion ist, kann Inszenierung werden – wo Inszenierung ist, kann lebendige Beziehung entstehen.

    Therapeutische Praxis: Awareness im Hier & Jetzt

    Die phänomenologischen Wurzeln der Gestalttherapie eröffnen einen unmittelbaren Zugang zum ganzheitlichen Erleben – über das Spüren und Fühlen im Hier und Jetzt. Das Gefühl bildet dabei eine zentrale Brücke zwischen psychischen und körperlichen Empfindungen. In der gestalttherapeutischen Arbeit wird die Körperebene gezielt durch Awareness, das Ausweiten der Bewusstheit, einbezogen. Die fokussierte Wahrnehmung richtet sich gleichermaßen auf körperliche, emotionale und geistige Prozesse und schafft so einen direkten Erlebniszugang zum Zusammenspiel zwischen inneren Mustern und körperlichen Reaktionen wie Schmerz, Atemverhalten oder begleitenden Emotionen.

    Die sogenannte Pendelbewegung der Aufmerksamkeit zwischen kognitiver und emotionaler Ebene wirkt dabei integrativ auf die Einheit von Körper, Seele und Geist. Die Bearbeitung psychosomatischer Symptome erfolgt nicht vorrangig über Analyse, sondern über das konkrete Erleben im gegenwärtigen Kontakt mit dem Therapeuten und dem eigenen Körper. Wenn ein Klient beispielsweise von einer belastenden Kindheitssituation berichtet und dabei eine verkrampfte Körperhaltung einnimmt, unterstützt die Gegenwartsorientierung das bewusste Spüren dieser Anspannung. Durch achtsame Begleitung kann diese passive Verkrampfung in eine lebendige Spannung verwandelt werden, um den dahinterliegenden emotionalen Ausdruck zu ermöglichen. Ziel ist es, die inneren Konflikte erlebbar zu machen und offene Gestalten zu schließen.

    Vom Körpergefühl zum Ausdruck: Gestalttherapie bei psychosomatischen Symptomen

    Die Arbeit mit psychosomatisch erkrankten Klient:innen erfordert besondere Sensibilität, da vorschneller emotionaler Ausdruck retraumatisierend wirken kann. Vor allem bei frühen Traumatisierungen vor dem zweiten oder dritten Lebensjahr bleibt die Erinnerung oft leiblich und atmosphärisch im Körpergedächtnis gespeichert. In solchen Fällen wird das emotionale Erleben nicht über konkrete Bilder oder Sprache erinnert, sondern als Körperzustand. Daher ist es umso wichtiger, eine langsame Pendelbewegung zwischen Gespräch („Darüberreden“) und körperlich-emotionalem Ausdruck zu fördern, um das Unaussprechliche schrittweise in symbolische oder verbale Formen zu überführen.

    Auch die sogenannte vegetative Gegenübertragung spielt in der Arbeit mit psychosomatischen Klient:innen eine zentrale Rolle: Der Therapeut kann Gefühle wie Ärger, Anspannung oder Resignation in abgemilderter Form selbst spüren als Spiegel dessen, was der Klient gerade erlebt, aber nicht ausdrückt. Diese therapeutische Konfluenz kann bewusst genutzt werden, um dem körperlichen Symptom Sprache zu verleihen und den Kontakt zum inneren Erleben zu vertiefen. Dabei braucht es neben fachlicher Kompetenz ein hohes Maß an Selbsterfahrung, Achtsamkeit und Geduld.

    In der gestalttherapeutischen Praxis stehen zahlreiche Methoden zur Verfügung, um innere Konflikte erlebbar zu machen, darunter die Arbeit mit dem leeren Stuhl, Rollenidentifikation, Psychodrama oder kreative Zugänge aus der Kunst-, Körper- und Musiktherapie. Gerade in der psychosomatischen Arbeit ist jedoch auf einen zu frühen Einsatz von Entspannungsverfahren zu achten. Denn bevor eine Spannung gelöst werden kann, muss sie zunächst bewusst gespürt, anerkannt und verstanden werden. Wird die Spannung vorschnell „wegentspannt“, besteht die Gefahr, dass der Kontakt zum zugrunde liegenden Gefühl unterbrochen bleibt.

    Die Gestalttherapie bietet durch ihre ganzheitliche Perspektive und die Analyse der Kontaktfunktionen einen differenzierten Zugang zu psychosomatischen Prozessen. Sie versteht das Zusammenspiel von Psyche und Soma nicht als Trennung, sondern als lebendige Einheit, in der jedes Symptom Ausdruck eines unvollständigen Kontakts ist und damit ein Tor zur Heilung.