Gesunde Abhängigkeit. Sich frei und verbunden fühlen in Beziehungen.
Gesunde Abhängigkeiten überwinden das Paradoxon von Nähe und Distanz. Jeder Mensch will frei sein und sich zugleich zugehörig fühlen im sozialen Miteinander. Wir sind soziale Wesen, die einander brauchen und nur gemeinsam wachsen können.
Für den Religionsphilosophen Martin Buber ist alles Leben Begegnung. Nur in Beziehung zu einem Du kann sich unser Ich entwickeln. Ein klares Du und ein klares Ich ergeben ein klares Wir. Je stärker ein Mensch mit sich selbst verbunden ist, eine klare Grenze hat, desto mehr wird er zu einem Gegenüber. Emotionale Verstrickungen hingegen blockieren das Wachstum und führen auf Dauer zu destruktiven Beziehungen.
Die Beziehung auf Augenhöhe, das Lösen aus emotionalen Abhängigkeiten und wieder in die Selbstverbindung zu kommen, sind wichtige Anliegen in meiner Praxis. Doch auf dem Weg dahin tauchen viele Fragen, Missverständnisse und fehlende Erfahrungen auf. Was bedeutet Autonomie? Was ist Pseudoautonomie? Was macht eine Beziehung auf Augenhöhe aus? Wie können ungesunde Abhängigkeiten erkannt werden?
Gesunde Abhängigkeit leben: Die Grundlage für erfüllende Beziehungen
Unsere Bedürfnisse nach Beziehung, Sicherheit, Geborgenheit, Zugehörigkeit sind Grundbausteine unseres Menschseins und Erleben unserer Umwelt. „Alles, was wir tun, steht im Dienste des tiefen Wunsches nach guten zwischenmenschlichen Beziehungen.“ sagt der Neurowissenschaftler und Psychiater Joachim Bauer. Daher werden soziale Ausgrenzung, der Verlust von Beziehungen, als existentielle Bedrohung empfunden.
Gesunde Abhängigkeit in Beziehungen verstehen
Im Erwachsenenalter gesunde Abhängigkeiten einzugehen, erfordert die Erfahrung von wechselseitiger Abhängigkeit und der darin enthaltenen Freiheit. Ideal wäre es, diese Erfahrung schon in der Kindheit durch stabile, sichere Bindungen zu machen. Ein sicheres Bindungsverhalten fördert eine gesunde Beziehungskultur, in der Vertrauen, Geborgenheit und gegenseitiger Respekt das Fundament bilden.
Sicher gebundene Menschen und ihre Beziehungen
Sicher gebundene Menschen gehen offen auf Menschen zu, schenken ihnen einen Vertrauensvorschuss, bringen ihre Bedürfnisse zum Ausdruck und achten auch die Bedürfnisse des anderen. Wohlbefinden, Gegenseitigkeit, Vertrauen, Präsenz prägen das Miteinander anstatt Sorge, Angst, Misstrauen, Dominanz, Kontrolle, Abwertung, Bewunderung. Wir können uns in der Gegenwart unseres Gegenübers entspannen genauso wie alleine und fühlen uns frei und angenommen in unserem Sein. Wir sind mehr wir selbst und können dies in sicheren Beziehungen auch ohne Druck und Angst zum Ausdruck bringen. Es gibt eine klare Grenze zwischen Ich und Du, die die Unterschiede des anderen sieht und respektiert.
Gesunde Abhängigkeit in Freundschaften und Partnerschaften
Ob in Freundschaften, Paarbeziehungen oder auch Arbeitsbeziehungen braucht es ein klares Ja oder Nein von allen Beteiligten. Das ist die Bedingung, um später überhaupt Konflikte austragen zu können, wo das Wohlergehen beider Parteien im Vordergrund steht. Beziehungen auf Augenhöhe beruhen auf gesunden Abhängigkeiten, die Verbundenheit und Selbständigkeit zusammen bringen. Dadurch entsteht Flexibilität, Bewegung, Nähe und Freiheit.
Gesunde Abhängigkeiten zeichnen sich dadurch aus, dass alle Beteiligen sich als getrennte, eigenständige Personen wahrnehmen, respektieren und loslassen können. Darin liegt die Freiheit, dass sich jeder verändern kann und darf ohne die Beziehung zu verlieren, dass wir unseren Wert nicht von anderen abhängig machen und wir uns selbst zum Ausdruck bringen können.
Die Kunst, erwachsen zu sein: Autonomie als Schlüssel zu gesunden Beziehungen
Autonomie oder das Erwachsensein ist die Grundlage für gesunde Abhängigkeiten in allen Formen von Beziehungen. Um authentische Verbindungen zu anderen aufzubauen und gleichzeitig die eigene Freiheit zu bewahren, ist es entscheidend, sich der eigenen Verantwortung und inneren Reife bewusst zu sein.
Was bedeutet Erwachsensein?
Erwachsensein bedeutet mehr als nur das Erreichen eines bestimmten Alters. Es bedeutet, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, die Konsequenzen des eigenen Verhaltens und der eigenen Emotionen zu tragen und persönliche Freiheit zu erlangen. Es geht darum, sich um die eigenen kindlichen Bedürfnisse zu kümmern, diese jedoch auf einer reifen, Erwachsenenebene auszudrücken.
Die Merkmale von Erwachsensein und Autonomie
Verantwortung übernehmen: Für das eigene Leben, Verhalten und die eigenen Emotionen Verantwortung zu tragen, ist der Grundpfeiler der Autonomie.
Selbstfürsorge: Die eigene Bedürftigkeit erkennen und auf eine gesunde Weise dafür sorgen.
Umgang mit Grenzen: Zu lernen, sowohl eigene als auch die Grenzen anderer zu respektieren.
Verantwortung für Abhängige: Sich um Menschen kümmern, die von uns abhängig sind, wie Kinder und Schutzbefohlene.
Realitätsbewusstsein: Die Fähigkeit, den Boden unter den Füßen zu behalten, sich selbst zu regulieren und Entscheidungen ohne Betäubung zu treffen.
Im Hier und Jetzt leben: Den eigenen Platz im Leben finden und mit der Vergangenheit Frieden schließen.
Erfüllung und Erfolg im Beruf: Den eigenen Lebensunterhalt selbstständig bestreiten und für sich selbst sorgen können.
Eigene Talente integrieren: Fähigkeiten und Talente entwickeln und in das Leben integrieren.
Alleinsein können: Die Fähigkeit, sich selbst zu genügen und Zeit mit sich selbst zu verbringen.
Das Altern annehmen: Die eigene Endlichkeit erkennen und sich auf ein würdiges Sterben vorbereiten.
Je autonomer wir sind, desto leichter fällt es, gesunde Abhängigkeiten einzugehen, die uns nähren und Halt geben. Denn je klarer wir uns selbst kennen und unsere Bedürfnisse verstehen, desto klarer können wir in Beziehungen wählen. Wir lassen uns nicht manipulieren oder unter Druck setzen und können uns in gesunden Beziehungen abgrenzen.
Gesunde Fürsorge für uns und andere
„Wer sich nach Geborgenheit und aufrichtig liebevoller Gemeinschaft sehnt, sollte lernen, seine Selbstfürsorge mit der Fürsorge für andere in Einklang zu bringen. Das bedeutet: Lernen, die Bedürfnisse der anderen wahrzunehmen und angemessen auf sie einzugehen – und dabei weder sich selbst noch andere Menschen auszubeuten.“ – Michaela Huber, Traumatherapeutin.
Der Einfluss von frühen Beziehungserfahrungen
Unsere ersten Beziehungserfahrungen, vor allem in der Kindheit, prägen unsere Wahrnehmung von Beziehungen im Erwachsenenalter. Das abhängige Verhältnis zwischen Eltern und Kind ist das Fundament, auf dem später alle weiteren Beziehungen aufbauen. Diese frühen Beziehungsmuster, die Ängste und Sorgen der Eltern, wirken auf uns ein und beeinflussen unsere Art, Beziehungen zu führen.
Warum der Blick in die eigene Geschichte wichtig ist
Wenn unsere Beziehungen nicht so sind, wie wir sie uns wünschen, kann es hilfreich sein, in die eigene Geschichte zu blicken. Oft beruhen die Schwierigkeiten in Beziehungen auf unbewussten Mustern, die wir von unseren Eltern übernommen haben. Es wäre ein Fehler, zu warten, dass sich unser Gegenüber verändert. Stattdessen sollten wir uns darauf konzentrieren, die eigene Autonomie zu stärken und frühkindliche Blockaden zu lösen.
Wer in der Kindheit nicht die Erfahrung einer sicheren Bindung gemacht hat, kann als Erwachsener eine mangelnde Autonomie entwickeln. Doch es ist nie zu spät, diese Autonomie zu erarbeiten. Durch Selbstreflexion und therapeutische Arbeit können wir uns von alten Mustern befreien und eine gesunde, reife Verbindung zu uns selbst und zu anderen aufbauen.
Pseudoautonomie: „Ich kann alles alleine“ oder „Die anderen gehen mich nichts an“
Autonomie ist ein wertvolles Gut, das unsere Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Unabhängigkeit in gesunden Beziehungen fördert. Doch oft wird Autonomie mit Pseudoautonomie verwechselt. Diese stellt eine Überabgrenzung dar und ist häufig Teil von Überlebensstrategien, die als Schutzmechanismen entstehen.
Was ist Pseudoautonomie?
Pseudoautonomie fühlt sich zunächst nach Unabhängigkeit und Stärke an, doch sie führt zu einer inneren Isolation. Menschen, die unter Pseudoautonomie leiden, ziehen sich emotional oder sogar räumlich zurück. Sie bauen eine Mauer um ihr Herz und werden von den emotionalen Bedürfnissen anderer nicht mehr berührt. Sie gehen aus dem Kontakt mit sich selbst und mit anderen und fühlen sich sicher in ihrem „goldenen Käfig“.
In Wirklichkeit ist diese Art der Abgrenzung ein Schutzmechanismus gegen Verletzlichkeit und Intimität, der jedoch die Fähigkeit zur authentischen Verbindung einschränkt. Die innere Verwechslung von gesunder Abgrenzung und Überabgrenzung führt dazu, dass der Kontakt zu anderen Menschen, der eigentlich das Wohlbefinden fördert, immer schwieriger wird.
Gesunde Abgrenzung vs. Pseudoautonomie
Eine gesunde Abgrenzung ist notwendig, um echte Nähe und Verbindung zu erleben. Sie ermöglicht es uns, uns in Beziehungen sicher zu fühlen, ohne uns selbst zu verlieren. Wir können Nähe zulassen, uns berühren lassen und Empathie für andere entwickeln, ohne uns selbst aufzugeben. Pseudoautonomie hingegen führt dazu, dass wir uns nicht mehr wirklich verbinden können – wir sind zwar „selbstständig“, aber innerlich einsam.
Anzeichen für Pseudoautonomie
Pseudoautonomie kann sich auf verschiedene Weise manifestieren. Zu den häufigsten Anzeichen gehören:
Angst vor Nähe, Bindung und Abhängigkeit: Die Vorstellung, dass Nähe zu anderen Menschen gefährlich oder bedrohlich ist.
Verstecken der eigenen Schwächen und Bedürfnisse: Schwierigkeiten, Schwächen zu zeigen oder um Hilfe zu bitten.
Angst vor tiefen Gefühlen: Vermeidung von emotionaler Intimität und tiefen Bindungen.
Leistungsorientierung: Das Gefühl, dass nur Leistung und Selbstgenügsamkeit Anerkennung bringen.
Unbewusste Identifikation mit den Bedürfnissen anderer: Schwierigkeiten, gesunde Grenzen zu setzen und sich nicht in die Bedürfnisse anderer zu verstricken.
Ursachen und Folgen von Pseudoautonomie
Pseudoautonomie hat oft ihre Wurzeln in der Kindheit, wenn grundlegende Bedürfnisse nach Bindung und Unterstützung nicht erfüllt wurden. Diese frühkindliche Überforderung und das Fehlen einer gesunden Erfahrung von Abhängigkeit führen dazu, dass Abhängigkeit als negativ wahrgenommen wird und vermieden werden soll. Die Folge ist, dass Erwachsene Schwierigkeiten haben, enge Beziehungen einzugehen und sich emotional zu öffnen.
Die langfristigen Folgen von Pseudoautonomie können tiefgreifend und belastend sein, darunter:
Einsamkeit: Das Fehlen von echten, nährenden Beziehungen.
Depressionen: Das Gefühl der inneren Leere und das Fehlen von emotionaler Unterstützung.
Größenillusionen: Das Gefühl, alles alleine schaffen zu müssen.
Überforderung: Die ständige Belastung, alles selbst bewältigen zu müssen, ohne Unterstützung von anderen.
Pseudoautonomie mag wie ein Schutzmechanismus erscheinen, doch sie hindert uns daran, erfüllende, gesunde Beziehungen zu führen. Der Weg aus der Pseudoautonomie führt über die Anerkennung von Bedürfnissen, das Zulassen von Nähe und Intimität sowie die Entwicklung gesunder Abgrenzung. Nur durch das Überwinden dieser Überabgrenzung können wir echte Autonomie erleben und erfüllende, gegenseitige Beziehungen aufbauen.
Merkmale ungesunder Abhängigkeiten
Die Beziehungsdynamiken ungesunder Abhängigkeiten zeigen sich in partnerschaftlichen, freundschaftlichen genauso wie in beruflichen oder auch politischen Beziehungen. Mal mehr oder weniger ausgeprägt, doch die Dynamik ist die Gleiche.
In meiner therapeutischen Arbeit spreche ich von Symbiosemustern. Sie sind früh in der Eltern-Kind-Beziehung entstanden und Ausdruck einer Autonomiehemmung. Die Symbiose ist die Flucht des überforderten Kindes. Die daraus entstandenen Anpassungs- bzw. Kompensationsstrategien finden sich immer wieder in ungesunden Abhängigkeiten und führen zu emotionalen Verstrickungen, die eine Beziehung auf Augenhöhe verhindern.
- Fixierung auf eine Person
- Emotionale Abhängigkeit wird verwechselt mit Liebe, fühlt sich berauschend an wie eine Droge
- Unterdrückte Aggression, passive Aggressivität
- Unterdrückung eigener Bedürfnisse
- Überanpassung an andere, Aufopferung
- Orientierung am Außen
- Abwertung, Manipulation und Dominanz, um andere von sich abhängig zu machen oder um Anerkennung zu bekommen
- Nicht alleine sein können
- Verlustängste, Eifersucht, Schuldgefühle
- Hoch emotional geladene Spannungen
- Bedürftigkeit und hohe Erwartungshaltungen
- Emotionale Erpressung, Druck, Angst machen, Drohen
- Grenzen werden (gegenseitig) nicht respektiert
- Beziehungen werden zu einer Belastung anstatt Bereicherung
Da wir andere Menschen nicht ändern können, sind wir selbst angehalten an uns zu arbeiten, um sich aus ungesunden Abhängigkeiten zu lösen und einen gesunden Umgang mit den Stärken und Schwächen anderen Menschen zu finden, sich gut abgrenzen zu können und einen gesunden Selbstwert zu entwickeln. Denn ein gesunder Selbstwert und eine starke Autonomie sind der beste Schutz vor ungesunden Abhängigkeiten und ein Boden für Beziehungen auf Augenhöhe.