GRENZEN RESPEKTIEREN – DAS NEIN DER ANDEREN

Für ein gesundes Miteinander sind Grenzen und der Respekt von Grenzen unerlässlich. Nicht nur Grenzen zu setzen, ist wichtig, sondern auch Grenzen zu respektieren. Fehlende Grenzen belasten unser soziales Miteinander.
Grenzüberschreitungen erkennen
Im therapeutischen Alltag richtet sich der Fokus oft auf die eigenen Grenzen, die von uns selbst oder anderen überschritten wurden und werden. Fragen tauchen auf, wie wir lernen können, eigene Grenzen wahrzunehmen, Wunden aus Grenzüberschreitungen zu heilen und Grenzen künftig klar zu kommunizieren.
Doch Grenzen zu setzen, reicht für ein gesundes Miteinander nicht aus. Wir müssen auch lernen, die Grenzen von anderen wahrzunehmen, zu respektieren und zu akzeptieren – auch wenn es uns nicht gefällt.
Was wir tun können, ist den Blick auf eigene Muster von Grenzüberschreitungen zu richten und aufzulösen. Ständig helfen wollen, Ratschläge geben, andere ändern wollen, sich in Belange und Entscheidungen andere einmischen, es besser zu wissen, sind ein Auszug gängiger grenzüberschreitender Verhaltensmuster. Lernt man das Nein des anderen ohne wenn und aber zu respektieren, können eigene Größenillusionen abgelegt und eigene Kräfte geschont werden. Beziehungen werden sich verbessern, wenn gegenseitiger Respekt zur Lebenshaltung wird.
Lernen Grenzen zu respektieren
Im besten Fall lernen wir als Kind, die Grenzen anderer zu respektieren. Dies geschieht auf eine ganz natürliche Weise, wenn von Geburt an die Grenzen von Kindern respektiert werden. Sobald ein Baby auf der Welt ist, beginnt es mit der Umwelt Kontakt aufzunehmen. Es zeigt durch Mimik und Körperhaltung, was es braucht, was angenehm und was unangenehm ist. Wenn Eltern bereit sind, sich auf die Bedürfnisse des Kindes einzulassen anstatt eigene Bedürfnisse auf das Kind zu projizieren, stehen die Chancen gut.
Unterstützen Eltern die Autonomiebestrebungen des Kindes, können die Unterschiede zwischen sich selbst und dem Kind anerkennen und ein Nein respektieren, werden Kinder auch im Erwachsenenalter einen gelassenen Umgang mit den Grenzen anderer haben. Die Erfahrung, dass eigene Grenzen keinen Beziehungsabbruch bedeuten und die Freiheit zur Entfaltung und Entwicklung gegeben ist, gibt einen starken inneren Halt. Gesunde Grenzerfahrungen schützen später vor falschen Abhängigkeiten, ermöglichen gesunde Beziehungen mit dem Potential auf Wachstum und stärken den Selbstwert.
Damit Eltern die Grenzen von Kindern wahrnehmen können, brauchen sie selbst ein gutes Gespür und Wissen um die eigenen Grenzen. Können sie diese klar und liebevoll vermitteln, schenkt ein Nein Halt und Orientierung. Wenn Kinder sehen, dass Eltern gut für sich selbst sorgen können, gibt es ihnen auch die innere Erlaubnis auf die eigenen Bedürfnisse zu schauen. Auch eine Rollenumkehr von Eltern und Kind, die sogenannte Parentifizierung, wird ausgeschlossen, wenn Eltern sich um ihre eigenen Bedürfnisse selbst kümmern und nicht ihre Kinder dafür verantwortlich machen.
Grenzenlose Menschen, Menschen die Grenzen von anderen schwer wahrnehmen oder respektieren können, haben oft selbst in der Kindheit Missachtung ihrer Grenzen erlebt. Sie werden häufig als übergriffig empfunden, respektlos und fordernd. Manchmal versteckt sich eine Grenzüberschreitung hinter einer falschen Hilfsbereitschaft. Falsche Hilfsbereitschaft ist egoistisch geprägt, dient der eigenen Selbstwertregulation und ist oft mit bewussten oder unbewussten Erwartungshaltungen oder Abhängigkeiten verknüpft „Schau, was ich alles für dich tue“ oder „Wenn es dir gut geht, geht es auch mir gut.“
Regulationsstarken Menschen fällt es leichter mit aufgezeigten Grenzen umzugehen. Sie bringt so schnell nichts aus der Ruhe, haben eine stabile Impulskontrolle und beziehen nicht alles auf sich. Eine gute Selbstregulation lernt ein Kind durch die Co-Regulation der Eltern, sie unterstützen das Kind emotional mit schwierigen Emotionen umzugehen und es durch die eigene Selbstregulation zu beruhigen.
Der Umgang mit dem Nein von anderen
Wir sind nicht dazu da, die Erwartungen anderer zu erfüllen. Genauso sind andere nicht dazu da, unsere Erwartungen zu erfüllen. Wir können uns als Erwachsene im Dialog treffen oder müssen uns verabschieden.
Verlustängste, Eifersucht, Wut, Hass, Enttäuschung, Selbstzweifel zeigen sich, wenn der Umgang mit dem Nein von anderen schwierig ist. Ein Nein kann tiefgreifende seelische Verletzungen hervorrufen, uns innerlich erstarren lassen und immer wieder aufs Neue triggern. Wenn wir keinen Umgang mit unseren Emotionen finden, können wir davon ausgehen, dass eine eigene schmerzhafte Erfahrung aus der Vergangenheit mitschwingt und wir emotional die Erfahrung aus der Vergangenheit von der aktuellen Erfahrung emotional nicht unterscheiden können.
Als Erwachsener sind wir aufgefordert zu lernen, mit Enttäuschungen oder Zurückweisungen umzugehen. Sie gehören zum Leben dazu. Ein stabiler Selbstwert hilft, nicht alles im Außen auf sich selbst zu beziehen und persönlich zu nehmen. Das ist nicht nur für die Person selbst anstrengend, sondern auch für alle Mitmenschen. Mit einem gesunden Selbstwert können wir das Nein eines anderen als Beziehungsangebot wahrnehmen anstatt als Ablehnung. Wir können die Erfahrung machen, dass ein Nein völlig in Ordnung ist und nicht gleich zu einem Beziehungsabbruch führt, sondern im Gegenteil gesunde Beziehungen schafft.
Das Nein eines anderen braucht auch keine Begründung oder Erklärung. Indem wir darauf drängen, treiben wir andere in die Enge, überschreiten eine Grenze. Wir müssen das Nein auch nicht gut finden. Es schlicht und einfach annehmen und respektieren, lässt Begegnung entstehen.
Die Grenzen anderen schenken Halt, sie geben uns Orientierung und laden uns ein, bei uns selbst zu schauen, was für uns passt und was nicht. Das lässt uns in Beziehungen atmen, macht frei und hält Beziehungen lebendig.
> Die Probleme der anderen
Wir sind gefordert zu lernen, die oft unausgesprochenen Grenzen anderer wahrzunehmen. Menschen, die sehr bedürftig oder traumatisiert sind, spüren ihre Grenzen selbst nicht oder finden es gut, wenn man sich für ihre Belange verausgabt. Daher ist jeder selbst dazu angehalten, nicht nur die eigenen Grenzen wahrzunehmen, sondern auch eine Sensibilität für die Grenzen anderer zu entwickeln.
Feinfühlige Menschen neigen dazu, mit anderen zu verschwimmen. Sie können nicht mehr zwischen Ich und Du unterscheiden. Sie nehmen die Probleme, Traumatisierungen von anderen in sich auf, fühlen sich verantwortlich und können sich schlecht oder gar nicht abgrenzen. Die Probleme von anderen werden zum eigenen unlösbaren Problem.
Wer jedoch beginnt, ungefragt die Probleme von anderen lösen zu wollen, missachtet eine Grenze und verletztet den Mensch in seiner Würde. Man mischt sich in Dinge ein, die niemanden etwas angehen. Jeder Mensch löst seine Probleme auf die eigene Art und Weise, im eigenen Tempo oder vielleicht auch nicht. Die Entscheidung ist jedem selbst überlassen.
In den emotionalen Verstrickungen mit der Familie kann immer wieder beobachtet werden, wie Kinder die Verantwortung für das Schicksal der Eltern übernehmen und eine Last tragen, die sie nicht tragen oder lösen können. Im therapeutischen Prozess ist es sehr schmerzhaft, sich von den eigenen Größenillusionen zu lösen und auf das, was Eltern ihren Kinder geben sollten, innerlich zu verzichten.
Auch wir Therapeuten können nicht die Probleme unserer Klienten emotional für sie lösen oder sie heilen, auch das wäre eine falsche und gefährliche Abhängigkeit. Wir können im besten Fall, Menschen durch ihren Schmerz begleiten, einen Raum schaffen und als Resonanzgeber ein Gegenüber sein, indem eine gesunde Begegnung und neue Erfahrungen möglich werden.
> Andere Werte, Meinungen und Entscheidungen respektieren
Die Fähigkeit Entscheidungen, Werte und Meinungen zu respektieren, entlastet Beziehungen und fördert zwischenmenschlichen Kontakt. Kollegen, Freunde, Partner dürfen anderes sein. Sie dürfen andere Entscheidungen treffen, andere Meinungen vertreten und nach anderen Werten leben. Wer dies ganz verinnerlichen kann, bleibt offen für den Kontakt.
Sich an der Grenze zu begegnen, ist ein Ausdruck von Augenhöhe. Man muss den anderen Menschen nicht ändern, dominieren oder nach seinen Vorstellungen formen. So kann man gelassen schauen, ob man sozusagen einen Draht zueinander findet und die Beziehung pflegen will oder nicht.
> Eine starke Selbstregulation ist wichtig
Grenzen zu respektieren, fällt Menschen mit einer starken Selbstregulation leicht. Sie bringt so schnell nichts aus der Ruhe, fühlen sich nicht gleich gekränkt, angegriffen oder verletzt. Sie machen die Erfüllung eigener Bedürfnisse nicht von einer Person abhängig und können ihre Bedürfnisse zurückstellen. Sie verfügen über einen gesunden Selbstwert und bleiben sich selbst treu.
Menschen mit einer schwachen Selbstregulation fällt es schwerer die Grenzen anderer zu wahren. Sie nehmen Situationen stärker persönlich und können Gefühle und Bedürfnisse schlechter regulieren. Oft fühlen sie sich auch mehr verantwortlich für andere und kümmern sich um deren Belange. Ein eigenes Bedürfnis bewusst aufzuschieben, kann unmöglich werden.
Mit der mangelnden Fähigkeit sich selbst zu regulieren, geht ein ständiges Stresserleben einher. Man lebt in einer ständigen Anspannung, hat eher das Gefühl gelebt zu werden anstatt aktiv das Leben zu gestalten, ist abhängig vom Außen und Mangelerfahrungen sind präsenter.
Die eigene Selbstregulation zu stärken, indem vergangene Stresserfahrungen verarbeitet werden, lässt uns bei uns selbst ankommen. So sind wir in der Lage eigene Grenzen zu wahren und gelassen mit dem Nein von anderen umzugehen.
> Vom Ich zum Du. Eigene Bedürfnisse zurückstellen
Als Erwachsene sollten wir in der Lage sein, eigene Bedürfnisse zurückzustellen. Man ist kein bedürftiges Kind mehr, dass auf die Erfüllung der Bedürfnisse durch die Eltern angewiesen ist. Genauso braucht es die Entwicklung einer Frustrationstoleranz. Natürlich ist es angenehmer, wenn andere Menschen sich nach unseren Bedürfnissen richten und wir wenig Widerstand im Außen erfahren. Doch auf Dauer belastet das Beziehungen und macht eine wahre Begegnung früher oder später unmöglich.
Das Nein von anderen kann frustrierend sein, enttäuschend oder verletzend. Für das eigene Wohlbefinden ist es hilfreich, das Erfüllen von Bedürfnissen selbst in die Hand zu nehmen und nicht von einer Person abhängig zu machen. In Beziehungen ist es hilfreich, eigene Bedürfnisse auch zurückstellen zu können oder auf die Erfüllung zu verzichten, wenn andere wichtiger sind. In Beziehungen ist es ein stetiges Abwägen und Aushandeln. Im besten Fall sind beide an einer Win-Win-Situation interessiert und jeder hat Raum für eigene Bedürfnisse.
Um eigene Bedürfnisse zurückstellen zu können, ist es hilfreich zwischen Bedürfnis und Bedürftigkeit unterscheiden zu können. Die eigene Bedürftigkeit speist sich aus den Mangelerfahrungen der eigenen Kindheit. Diese kann keine andere Person erfüllen und wirkt abschreckend im Kontakt. Kein Erwachsener möchte ein Kind als Freund oder Freundin. Hingegen sind Bedürfnisse und deren Erfüllung auf der Erwachsenenebene wichtig in Beziehungen. Bedürfnisse und Erwartungen sollten klar kommuniziert werden. So kann im Dialog geklärt werden, wie und welche Bedürfnisse in der Beziehung erfüllt werden können und welche nicht. Mit dem gegenseitigen Respekt von Grenzen, einem gelassenen Umgang mit dem Nein von anderen, entspannen sich Beziehungen ungemein.