INNERE LEERE HAT VIELE GESICHTER
In unserer Seele spielt sich oft ein stilles, aber intensives Drama ab – das Drama der inneren Leere. Dieses Gefühl, als wäre etwas Grundlegendes verloren gegangen, lässt uns oft ratlos und orientierungslos zurück. Es ist nicht nur eine momentane Leere, sondern ein dauerhafter Zustand, der das Selbstbild und die Wahrnehmung unserer Beziehungen maßgeblich beeinflusst.
In meiner therapeutischen Arbeit bin ich immer wieder mit der inneren Leere, zwischenmenschlichen Leere-Erfahrungen und Leerstellen unserer Wahrnehmung konfrontiert. Sich mit Leere auseinanderzusetzen macht Angst, ist oft diffus und bleibt im Verborgenen. Sie ist verbunden mit Erfahrungen von Schmerz, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Kälte und ein Teil unseres seelischen Leids.
In der Aufstellungsarbeit zeigen sich immer wieder Felder der Leere. Sie tun sich auf in der Beziehung zwischen Partnern oder Eltern, sind emotionaler Ausdruck von Erschöpfung und Ausgebranntsein und wird spürbar, wenn es keine innere Verbindung mehr zu sich selbst gibt. Manchmal zeigt sich eine Leere, wenn wir beginnen uns von alten Überlebens- und Kompensationsmustern zu lösen. Die Fragen, was oder wer bin ich dann, treten in den Vordergrund und suchen nach einer Antwort.
In therapeutischen Prozessen werden Menschen mit ihren Leerstellen in der Wahrnehmung, den blinden Flecken, konfrontiert. Das kann unangenehm sein, doch es erweitert den Blick und bietet die Chance auf Veränderung, sich von Illusionen zu lösen und Konsequenzen zu ziehen.
Innere Leere: Das Diffuse greifbar machen.
Leere ist emotional nicht richtig greifbar. Sie wird in Worte gefasst: „Es fühlt sich irgendwie leer an, verschwommen.“, „Ich bin gar nicht da“, „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich bin so leer“, „Da ist einfach Nichts.“, „Ich habe viele Kontakte und bin trotzdem einsam.“, „Ich fühle mich nicht verbunden.“ Körperlich ist das Erleben von Leere gleichbar mit einem Erstarren, Einfrieren oder Nebel, ein seltsames Gefühl.
Leere hat immer etwas Maßloses. Es gibt keine Grenzen, keinen Maßstab, keine innere Orientierung. Auch die Leere zu füllen, wird mit Maßlosigkeit beantwortet. Zu viel arbeiten, zu viel leisten, zu viel essen, zu viel konsumieren, zu viel soziale Medien, um die Leere zu stillen. Doch es gibt kein Ende. Man wird nicht richtig satt, bleibt immer hungrig, gierig und im Mangel. Oft entstehen Suchtthematiken, die ihre Ursache in frühen Leere-Erfahrungen haben.
„Wer aber mit Leere statt eines Gegenübers aufgewachsen ist, findet oft kein Maß für seine Gefühle, für seine Leidenschaft, für seine Bewertungen.“ (Dr. Udo Baer)
Innere Leere ist verbunden mit:
– dem Gefühl der Entfremdung: Man fühlt sich nicht mehr mit sich selbst oder anderen verbunden.
– Antriebslosigkeit und Sinnlosigkeit: Das Leben scheint plötzlich bedeutungslos.
– Flucht in Ablenkungen: Übermäßiges Arbeiten, Social Media, Essen, Shopping oder andere Kompensationsmechanismen
– Überhöhte Leistungsorientierung
– Anpassung an andere mit dem Verlust des eigenen Selbst
Therapeutisch führt der Weg zu dem Ursprung der Leere. Wie ist sie entstanden? Wo sind wir mit unserem Sein ins Leere gelaufen? Um das diffuse Erleben greifbar zu machen, müssen wir unserer Leere begegnen, sie spüren und ihren Spuren folgen.
Leere-Erfahrungen führen zu innerer Leere
Innere Leere hat ihren Boden in Leere-Erfahrungen. Sie entsteht, wenn emotionale Bedürfnisse über längere Zeit hinweg unerfüllt bleiben. Die Wurzeln innerer Leere liegen häufig in frühen Erfahrungen. Wenn wir als Kinder nicht wahrgenommen oder emotional begleitet wurden, kann sich diese Vernachlässigung tief in unser Selbst verankern.
Ohne das beruhigende Gefühl, gesehen und gehört zu werden, entsteht ein Mangel an innerer Resonanz. Dieser Mangel kann sich später in einem ständigen Gefühl der Leere manifestieren – ein emotionales Vakuum, das scheinbar unstillbar ist. Aber auch Krisen wie Trennungen, der Verlust eines geliebten Menschen oder Übergangsphasen, können dieses Empfinden hervorrufen.
Frühe Leere-Erfahrungen sind traumatische Erfahrungen, die unsere Entwicklung blockieren. Jeder Mensch ist auf zwischenmenschliche Resonanz, auf Beziehung und Bindung angewiesen. Über ein DU werden wir zum ICH, schreibt der Religionsphilosoph Martin Buber. Ein Gegenüber ist essentiell für die Selbstwerdung, die notwendige Differenzierung zwischen ICH und DU, die Basis für gesunde Beziehungen und die Entwicklung eigener Maßstäbe und Grenzen.
Die frühesten Erfahrungen unseres Lebens prägen uns am tiefsten. Wenn wir der inneren Leere begegnen, müssen wir zwangsläufig unseren Blick auf unsere Kindheit richten. In den ersten Lebensjahren bilden sich grundlegende emotionale Muster, die uns ein Leben lang begleiten.
Frühe Bindungserfahrungen spielen dabei eine entscheidende Rolle. Kinder brauchen eine sichere Basis – Eltern oder Bezugspersonen, die ihre Bedürfnisse wahrnehmen und angemessen darauf reagieren. Fehlt diese Resonanz, entsteht ein Gefühl des Nicht-gesehen-Werdens. Diese emotionale Vernachlässigung kann später zu einer tiefen Leere führen, die schwer in Worte zu fassen ist.
Besonders schmerzlich sind Erfahrungen emotionaler Abwertung. Wenn kindliche Gefühle ignoriert oder gar lächerlich gemacht werden, lernen Kinder früh, ihre eigenen Emotionen zu unterdrücken. „Du bist zu sensibel“ oder „Stell dich nicht so an“ sind Sätze, die sich tief einprägen und dazu führen, dass Kinder den Kontakt zu ihren wahren Gefühlen verlieren.
Während für manche die Leere aus dem Fehlen von Zuwendung entsteht, kann sie für andere paradoxerweise aus zu viel Aufmerksamkeit der falschen Art resultieren. Kinder, die nur für Leistung anerkannt werden oder die Rolle des „braven Kindes“ übernehmen mussten, verlieren oft den Zugang zu ihren authentischen Wünschen und Bedürfnissen.
Auch traumatische Erfahrungen hinterlassen tiefe Spuren. Um sich vor überwältigenden Gefühlen zu schützen, entwickelt die kindliche Psyche Schutzmechanismen. Diese können von Dissoziation bis hin zur emotionalen Abstumpfung reichen – Überlebensstrategien, die im Erwachsenenalter als innere Leere erlebt werden.
Wenn Eltern selbst mit Leere kämpfen, geben sie diese oft unbewusst weiter. Die fehlende emotionale Verbindung wird zum prägenden Beziehungsmuster. Als Erwachsene tragen wir diese unbewussten Muster mit uns, bis wir beginnen, sie bewusst zu erkennen und zu verändern.
Von der Leere zur Beziehung
Das Drama der inneren Leere beeinflusst die Beziehung zu uns selbst und zu anderen Menschen. Der Prozess, aus der inneren Leere herauszufinden, beginnt mit einem wichtigen ersten Schritt: dem Erkennen und Zulassen der inneren Leere, um Spuren zum Ursprung aufnehmen zu können. Dazu braucht es ein vertrauensvolles DU, ein Gegenüber, dass uns Resonanz gibt und nicht ins Leere laufen lässt. Während wir als Kinder oft keine Wahl hatten, verfügen wir als Erwachsene über Möglichkeiten, unsere emotionale Landschaft zu verändern.
Das Gefühl der Leere dient als Wegweiser, nicht als Endstation. Es zeigt uns, wo wir den Kontakt zu unseren wahren Bedürfnissen verloren haben. Wieder mit sich selbst in Kontakt zu kommen, eine stabile Selbstverbindung aufzubauen und die eigenen Grenzen zu spüren, lässt die innere Leere verschwinden und Lebendigkeit, Wärme und Neugier finden einen Platz.