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Was ist das wahre Selbst?

    Das wahre Selbst aus der Sicht der Gestalttherapie 

    In der humanistischen Psychotherapie und besonders in der Gestalttherapie spielt das Konzept des wahren Selbst eine zentrale Rolle. Doch was ist damit eigentlich gemeint?

    Das wahre Selbst ist Ausdruck unserer inneren Stimmigkeit, unserer Authentizität und Lebendigkeit. Es zeigt sich dort, wo wir frei, selbstbestimmt und in Übereinstimmung mit unserem inneren Erleben handeln können – jenseits von äußeren Erwartungen, Rollen oder Anpassungszwängen.

    In der Kreativen Leibtherapie sprechen wir von einem unzerstörbaren Kern, den jeder Mensch in sich trägt. Andere sprechen vom höheren Selbst oder der Seele. Unabhängig von Begrifflichkeit oder Weltanschauung ist die Erfahrung ähnlich: Ein tiefes Gefühl von Echtheit, von innerer Freiheit, von Übereinstimmung mit sich selbst.

    Qualitäten des wahren Selbst:

    • Stimmigkeit – sich mit sich selbst im Reinen fühlen

    • Innere Freiheit – unabhängig von äußeren Erwartungen handeln können

    • Authentizität – sich zeigen, wie man wirklich ist

    • Selbstwirksamkeit – erleben, dass man das eigene Leben gestalten kann

    • Potenzialentfaltung – die eigenen Talente und Fähigkeiten leben

    Die Gestalttherapie versteht Autonomie nicht als Abgrenzung um jeden Preis, sondern als die Fähigkeit, dem eigenen inneren Gesetz zu folgen. Es geht darum, aus den eigenen Maßstäben heraus zu leben und nicht aus Anpassung, nicht aus Angst oder Gewohnheit.

    Diese Form der Autonomie ist kein statischer Zustand, sondern ein fortlaufender Prozess. Gerade in Beziehungen, in denen Macht, Kontrolle oder emotionale Abhängigkeit eine Rolle spielen, wird sie zur täglichen Herausforderung. Nur wer in sich selbst verankert ist, kann sich auch auf gesunde Weise auf andere einlassen. Erst wenn das wahre Selbst Raum bekommt, ist Beziehung auf Augenhöhe möglich als Ausdruck innerer Reife.

    „Wahre Autonomie muss man sich jeden Tag neu erarbeiten.“

    Das falsche Selbst – Entfremdung und Überlebensstrategie

    Während das wahre Selbst mit innerer Stimmigkeit, Authentizität und Selbstbestimmung verbunden ist, entsteht das falsche Selbst aus Anpassung, Angst und innerem Druck. Es ist das Ergebnis von Überlebensstrategien, die in früher Kindheit notwendig waren, um emotionale Not zu bewältigen.

    Das falsche Selbst entwickelt sich dort, wo das wahre Selbst nicht willkommen ist. Wenn ein Kind nicht gesehen, gehört oder in seinem Sein gewürdigt wird, passt es sich an: Es beginnt, fremde Bedürfnisse über die eigenen zu stellen, unterwirft sich – oder stellt sich über andere, um Kontrolle zu gewinnen. Es verliert die Verbindung zu sich selbst.

    Typische Merkmale des falschen Selbst:

    • Größenphantasien und Allmachtsideen
    • Leistungsorientierung und ständiger Selbstoptimierungsdruck
    • Idealisiertes Selbstbild, Perfektionismus
    • Kontrollbedürfnis und Angst vor Kontrollverlust
    • Eingeschränkte Spontaneität und Handlungsfreiheit
    • Lebensillusionen und Realitätsflucht
    • Brüchiger Selbstwert hinter Fassade
    • Manipulatives Verhalten oder narzisstische Züge

    „Unter innerem Druck kann jedoch ein Mensch seinem wahren Selbst entfremdet werden. dann  setzt er den größten Teil seiner Kräfte dafür ein, sich mithilfe eines starren Systems innerer Gebote zu einem Wesen von absoluter Vollkommenheit zu formen. Denn nur göttergleiche Vollkommenheit kann die Erfüllung des idealisierten Vorstellungsbild, das er von sich hat, ermöglichen, nur sie kann seinen Stolz auf jene Eigenschaften befriedigen, die er seinem Gefühl nach besitzt, besitzen könnte und sollte.“ Psychoanalytikerin Karen Horney

    Falsches Selbst und familiäre Prägung

    Im therapeutischen Verständnis zeigt sich das falsche Selbst oft in einer symbiotischen Identifikation – etwa mit einem Elternteil, einem Familienschicksal, einem Glaubenssatz oder einem Trauma. Diese Identifikation führt zu einer falschen Identität, die nicht aus authentischem Erleben, sondern aus Anpassung entsteht.

    Viele Eltern brauchen Kinder unbewusst, die sich emotional anpassen:

    • um eigenes inneres Chaos zu regulieren
    • um ein Echo auf die eigene Leere zu erhalten
    • um durch die Erfolge des Kindes den eigenen Selbstwert zu stabilisieren

    Für das Kind entsteht so früh ein Spannungsfeld aus emotionaler Erpressung, Bedingtheit und Verlust des Selbst. Es lernt, sich zu verstellen, Bedürfnisse zu unterdrücken und Erwartungen zu erfüllen. Das wahre Selbst bleibt im Verborgenen und wird zunehmend unerreichbar.

    Der Weg zurück: Vom falschen zum wahren Selbst

    Der Weg zum wahren Selbst geht im ersten Schritt über die Wahrnehmung der Selbstentfremdung. Hier muss erstmal realisiert werden, wie weit man sich von sich selbst entfernt hat, indem das Eigene verleugnet wird und man sich anpasst. Das kann einen tiefen Schmerz hervorrufen, der jedoch ein gesunder Schmerz ist. 

    Die Lösung der Identifikation mit den Eltern, den Erwartungen, den Glaubenssätzen und auch den eigenen traumatischen Erfahrungen sind tiefgreifende Erfahrungen. Es muss Schritt für Schritt gelernt werden, das Eigene zu spüren – die eigenen Bedürfnisse, die eigenen inneren Wertmaßstäbe, der eigene innere Raum mit seinen gesunden Grenzen. 

    Das wahre Selbst ist die eigentliche Natur des Menschen.