WAS BEDEUTET SEELISCHE GESUNDHEIT?
Seelische Gesundheit wird nach dem Gestaltansatz als ein ungestörter Kontakt nach innen und außen definiert sowie die Fähigkeit eines Menschen, seine psychischen, geistigen, physischen und sozialen Bedürfnissen ohne Schaden für sich und seine Umwelt zu befriedigen. Das beinhaltet beispielsweise in Stresssituationen, die individuellen Möglichkeiten zu nutzen, sich stimmig zur Situation und sozialen Umwelt abgrenzen zu können.
„In der Gestalttherapie unterscheidet man nicht zwischen Gesunden und Kranken. Gestalttherapie oder einfach „Gestalt“ ist vielmehr eine Lebenseinstellung die praktische Konsequenzen hat. Es geht um dich und mich und unsere Erfahrung im Hier&Jetzt. Wachstum ist hier das richtigere Wort als Therapie. Wachstum heißt spontaner, lebendiger und glücklicher zu sein. Den eigenen Kern wertschätzen. Halberledigtes vollenden und neue Schritte wagen.“
SELBSTREGULATION & STRESS
Der Umgang mit Stress und eine gesunde Selbstregulation sind der Boden für unsere seelische Gesundheit. Eine funktionierende Selbstregulation äußert sich in dem Ausdruck von Kohärenz. Dazu zählen eine stabile Grundeinstellung zum Leben und sich im Einklang verhalten mit den eigenen Werten und Zielen. Der Umgang mit Stress ist gekennzeichnet durch einen gesunden Rhythmus von Anspannung und Entspannung, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und sich gut abgrenzen zu können.
Ein kohärentes System organisiert sich selbst und öffnet sich für Weite, Wachstum und Expansion. Es ist das Gegenteil von einem Chaos-System, das sich durch Enge und Angst vor Expansion auszeichnet. Der Zugang zur sich selbst fehlt und man agiert durch Funktionieren und Kontrolle.
Seelische Gesundheit bedeutet nicht das immerwährende Glück, wie es sich häufig in den Medien darstellt. Dem Anschein nach perfekte Bilder vermitteln ein falsches Bild vom Leben und setzen mehr unter Druck als das es hilfreich wäre. Glück kommt und geht. Es ist eine Emotion wie jede andere und je mehr wir dies akzeptieren und annehmen lernen, desto mehr kann das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen genossen werden.
Emotionales Leid wird empfunden, wenn:
- das Selbst- und Fremdbild nicht zusammen passt
- die Differenz zwischen wie es ist und wie es sein soll zu groß ist
- einem Mangel an Kompetenzen sich zum Ausdruck zu bringen
- keine Grenze zwischen früher und heute zu haben („Ich bin nicht das arme Kind von früher“)
- man über- oder unterreguliert ist
Stress ist individuell. Daher ist es umso wichtiger die eigenen Stressoren zu erkunden, um daran zu arbeiten und Entspannung zu fördern. Im therapeutischen Prozess werden die äußeren und die inneren Stressoren identifiziert. Bei den äußeren Stressoren müssen andere Rahmenbedingungen geschaffen, äußere Ressourcen aufgebaut oder vermehrt Grenzen gesetzt werden. Bei inneren Stressoren geht der Weg häufig zurück in die Kindheit zu den noch unverarbeiteten Stress. Innere Stressoren können Glaubenssätze sein, innere Verbote, mangelnde Abgrenzung zu den Eltern, Erfahrungen von Gewalt, Missbrauch und emotional Vernachlässigung. Stressoren setzen uns bewusst oder unbewusst unter Druck, wir können uns gefühlt nicht frei bewegen oder entscheiden, sind destruktiv abhängig von anderen und erzeugen körperliche und seelische Symptome wie Depressionen, Ängste, Erschöpfung, Rückenschmerzen, Migräne, etc.
Die Stärkung der Selbstregulation ist zentral in psychotherapeutischen Prozessen und kann Schritt für Schritt erlernt werden. Das braucht Zeit, Geduld und Mut.
WAS STABILISIERT UNSERE SEELISCHE GESUNDHEIT?
Für den therapeutischen Prozess ist es aus meiner Sicht wichtig, nicht am Symptom zu arbeiten, sondern nach der Ursache zu forschen. Reine Symptombekämpfung führt in der Regel nicht zur Heilung und Wiederherstellung der Gesundheit. Die Arbeit am Symptom ist ein therapeutisches Abarbeiten ohne Ende. Ziel muss sein, die Gesundheit aufzubauen, damit die Symptome verschwinden. Dazu zählen alle Fähigkeiten zu fördern, die ein erfülltes Leben ermöglichen.
Die Gestalttherapie setzt im Gegensatz zur Verhaltenstherapie genau hier an und transportiert damit auch ein anderes Menschenbild. Es geht nicht um eine Symptombehandlung, darum zu funktionieren und schnell wieder zu arbeiten, sondern in Beziehung zu gehen. Eine gesunde Beziehung zu sich selbst und zu anderen Menschen zu entwickeln hin zu mehr Lebendigkeit und Gesundheit.
Es gibt verschiedene Anhaltspunkte, die unsere seelische Gesundheit fördern:
> Emotionen regulieren
Emotionen haben eine Suchtwirkung. Wer früh Stress erfahren hat, wiederholt dieses Erleben immer und immer wieder, weil es als „Normalzustand“ kennengelernt wurde. Entspannung ist fremd und kann auch erstmal als unangenehm empfunden werden, bis der Körper lernt sich wieder zu regulieren.
> Fähigkeit zur eingestimmten Kommunikation
Aus meiner Sicht eine immer seltener werdende und daher umso wichtigere Fähigkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen. D.h. die eigene Präsenz schulen und sich auf andere einstimmen, dh. das mein Gegenüber sich gesehen/gefühlt fühlt.
> Angst begrenzen
Das Gehirn will nichts Neues und ist auf Altbewährtes angelegt, daher sind Veränderungen so schwer umzusetzen. Um Veränderungen zu kreieren, muss ständig unsere Angst reguliert werden. Daher können Veränderungen nur in kleinen Schritten dauerhaft integriert werden. Es muss immer ein Boden für Veränderungen da sein, um sich Neuem zu öffnen.
> Pause zwischen Reiz und Reaktion
Die Praxis der Achtsamkeit kann unterstützen, die Fähigkeit zwischen Reiz und Reaktion unterscheiden zu lernen. Dies ist harte Arbeit und dauert. Dabei wird gelernt sich von dem Gefühl zu de-identifizieren und eine Beobachterfunktion einzunehmen.
> Differenzierung zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Für unsere seelische Gesundheit ist es wichtig zwischen den Zeiten differenzieren zu können – So war ich früher, heute und so will ich in der Zukunft sein. Bei Traumatisierungen fehlt diese zeitliche Grenze. Die Emotionen von damals sind gegenwärtig.
> Empathiefähigkeit
Wenn man Menschen gut lesen kann, bedeutet das nicht Empathie. Auch Psychopathen können sich gut in andere Menschen einfühlen. Dabei geht es um Manipulation, Anerkennung oder Machtmissbrauch. Eine gesunde Empathie respektiert die Grenzen und man bleibt im Kontakt mit dem anderen bei sich selbst.
> Eigene Werte
Werte geben uns Halt und Sicherheit, wenn sie frei gewählt sind. Das können selbst bestimmte Werte sein oder auch Werte, die wir von der Familie selbstbestimmt übernehmen. Oft gibt es jedoch auch übernommene Werte aus dem Familiensystem, die nicht unsere sind und uns eng, klein und unfrei machen.
> Bindungsfähigkeit
Bindungsfähigkeit bedeutet sich in eine gesunde Abhängigkeit mit einem Gegenüber zu begeben. Man kann sich einlassen und abgrenzen, man lebt Nähe und Distanz ohne Angst, man unterstützt sich, Geben und Nehmen ist in einem ausgewogenen Verhältnis, man zeigt gegenseitiges Interesse. Stabile Beziehungen sind unerlässlich für unsere seelische Gesundheit.
> Zugang zum Körper
Die zunehmende Körperlosigkeit ist erschreckend und mitverantwortlich für die vielen gesundheitlichen Probleme. Ohne unseren Körper geht nichts. Wir brauchen den Körper, um zu fühlen, wie es uns geht und was wir brauchen. Menschen spüren nicht mehr, dass sie gestresst sind oder überfordert oder auch sich wohlfühlen. Sie funktionieren bis sie umfallen. Den Körper wieder spüren lernen, muss zentral im therapeutischen Arbeiten integriert sein, um die seelische Gesundheit dauerhaft zu stabilisieren.
SEELISCHE GESUNDHEIT & LEBENSKUNST
Lebenskunst in der Gestalttherapie wird verbunden mit dem Erlernen einer Haltung – einer Haltung zum Leben als Abenteuer. Es gibt keine absolute Sicherheit, nur die lebendige Erfahrung im Hier&Jetzt.
Die sinnliche Erfahrung, das achtsame Spüren unseres Körpers bringt uns in die Gegenwart. Begleitet von unserer Neugier als Urquelle und eigentliche Kraft von Wachstum sind wir in einem stetigen Fluß des Lebens. Leben von unserer Geburt bis zum Tod ist etwas, das wächst, schrumpft und wieder verschwindet.
Unsere Erfahrung des Selbst ist ein Prozess und Zustand zugleich. Wir alle haben ein Selbst, ursprünglich, immer da, was zum Ausdruck kommen will. Wir sind im Einklang mit dem, was wir denken, fühlen und wie wir handeln: „Das bin ich.“ Vielleicht würden es manche Seele nennen. Und es gibt eine weitere Perspektive auf unser Selbst – das Selbst als ein Prozess. So erfahren wir uns an der Kontaktgrenze immer in Bewegung, in der Begegnung mit anderen Menschen und unserer Umwelt. Identifikationsprozesse finden statt, indem wir uns nochmals reflexiv erfahren und bewusst identifizieren. So kann das Selbst unterschiedlich energetisch aufgeladen sein als Identifikation = Prozess oder als Zustand = Identität.
> In Bewegung sein
Bewegung im Sinne der Lebenskunst bedeutet im Rhythmus sein – im richtigen Rhythmus leben zwischen Rückzug und Kontakt. Jeder Kontakt verlangt nach einem stimmigen Rhythmus. Kontakt heißt, präsent sein, als Gegenüber da sein. Der Rhythmus von Nähe und Distanz bestimmt unsere Beziehungen. Wie Geben und Neben, Anspannung und Entspannung immer einem gesunden Rhythmus folgen und damit die seelische Gesundheit stabilisieren. Ein zu viel oder zu wenig bereitet Schwierigkeiten.
> Um Ressourcen wissen
Ressourcenorientiert leben, die eigenen Stärken kennen und einsetzen, stärken unsere seelische Gesundheit. Eine wichtige Ressource ist das Gewahrsein. Gewahrsein praktizieren, zählt zu den Faktoren der Heilung in der Gestaltarbeit. Dabei geht es immer wieder um die Aufmerksamkeit „Was brauche ich?“, „Was will ich?“, „Wofür entscheide ich mich?“
> Ins Tun kommen
Lebenskunst heißt Handeln – lebe initiativ! Dazu zählen, fordern und zupacken zu lernen. Jede Initiative bringt uns das Erleben unserer Selbstwirksamkeit. Das sind auch Mittel, um uns vor Depressionen zu schützen oder uns aus depressiven Phasen zu holen. Ins Tun kommen, Handeln und Ideen umsetzen, wecken die Lebensgeister und bringen unsere Kreativität zum Vorschein. Jedes Problem ist erst klein. Wenn man es hinauszögert, wird es immer größer.
> Gefühle wertschätzen
Unseren Gefühlen Raum geben, intensiviert das Leben. Sie bringen Fülle, Orientierung und sind ein Motivator „Da will ich hin!“. Freude empfinden, heißt im Vollkontakt sein und sich ganz einlassen auf die Erfahrung.
Sehnsucht, Furcht, Angst, Trauer, Ekel fordern einen klügeren Umgang mit negativen Gefühlen. Werden Gefühle unterdrückt, gibt es einen Gefühlsstau. Gefühle beginnen zu verkümmern und man wird depressiv.
> Selbstverantwortung leben
In der Gestalttherapie geht es zentral um Selbstverantwortung. Sobald wir erwachsen sind und aus den Kinderschuhen raus, sind wir dazu angehalten Verantwortung für unsere Erfahrungen und den Umgang damit zu übernehmen. Das heißt auch, unbewusste elterliche „Aufträge“ aufzudecken und sich von ihnen zu befreien. Gestalt heißt auch, aus der inneren Freiheit leben – schöpferisch und intensiv – und nicht nach einem unbewussten Lebensskript.