ENTWICKLUNG ZUR AUTONOMIE
In meiner Arbeit ist ein zentraler Aspekt die Entwicklung zur Autonomie. Klienten formulieren es oft mit den Worten „Ich möchte ICH sein“, „Ich möchte mit mir verbunden sein“, „Ich möchte meines finden“, „Ich möchte eine Beziehung auf Augenhöhe“, „Ich will leben ohne meine Symptome“, „Ich will nicht mehr kämpfen und frei sein.“ In all den Aussagen spiegelt sich der Wunsch nach Autonomie wieder – nach Selbstbestimmung, Freiheit und Bindung zugleich.
Mein Verständnis von Autonomie ist geprägt von meiner langjährigen therapeutischen Erfahrung, Persönlichem sowie humanistischen Ansätzen und neuen Forschungsergebnissen aus der Bindungsforschung, Entwicklungspsychologie, Neuroimmunologie und Epigenetik.
WAS BEDEUTET AUTONOMIE?
Autonomie ist die Kunst, erwachsen zu sein, seinen inneren Maßstäben zu folgen und konstruktive Beziehungen zu leben. Es ist ein Prozess, der schon von Beginn an in uns Menschen angelegt ist. Bereits an Säuglingen können Autonomiebestrebungen beobachtet werden. Säuglinge sind abhängig, aber nicht passiv oder undifferenziert. Im Gegenteil bestimmen Säuglinge schon von Beginn an die Interaktion mit, beispielsweise durch Blickkontakt, zuwenden oder abwenden. Für die Autonomie-Entwicklung, die Ich-Bildung eines Kindes, ist die stimmige Interaktion mit der Bezugsperson die Basis. Je besser die Bezugsperson auf die Bedürfnisse des Kindes reagiert, desto mehr fühlt sich das Kind gesehen, gehört und als Gegenüber wahrgenommen.
Die Entwicklung zur Autonomie ist die Fähigkeit:
- den eigenen inneren Maßstäben zu folgen
- ein klares Ja und ein klares Nein
- sich selbst zu regulieren, d.h. eine gesunde Balance zw. Anspannung und Entspannung sowie mit schwierigen Gefühlen umzugehen
- sich nicht in emotionale Abhängigkeiten zu begeben durch Überanpassung, Manipulation, Dominanzverhalten
- gesunde Abhängigkeiten in Beziehungen
- ein gesunder Selbstwert, d.h. keine Selbstüberschätzung und keine Selbstablehnung
- Sich zur Wehr setzen können und Nein-sagen – eine gesunde Aggression leben
- Grenzen von anderen zu respektieren und akzeptieren
- differenzieren zu können zwischen ICH und DU sowie Vergangenheit und Gegenwart
- Ein gesundes Maß an Nähe und Distanz ohne Verlustängste
- Eine gesunde Abgrenzung zu Eltern, Freunden, Partnern ohne Schuldgefühle
- Autonomie ist die Voraussetzung für Kontakt und eine Beziehung auf Augenhöhe
- Autonomes Handeln bezieht den anderen mit ein mit der Intention einer Win-Win-Situation
- Verantwortung für sich selbst übernehmen
AUTONOMIE BRAUCHT GESUNDE GRENZEN
Autonomie ist nicht zu verwechseln mit der häufig vorkommenden Pseudoautonomie. Pseudoautonomie ist eine Überabgrenzung und ein Aspekt einer Überlebensstrategie. Damit verbunden sind eine frühe Überforderung in der Kindheit, ein Verstecken der eigenen Schwäche und Bedürfnisse, alles alleine zu machen, nicht um Hilfe bitten können, tiefe Gefühle wenig zuzulassen, sich zu stark mit dem Gegenüber zu identifizieren, sich nicht gesund abgrenzen zu können oder viel leisten zu müssen. Die Folgen sind Gefühle der Einsamkeit, Depression oder Überlegenheit.
Gesunde Grenzen sind die Grundvoraussetzung für eine stabile Beziehung zu sich selbst und anderen. Damit verbunden sind:
- ein gesunder Selbstwert
- die Fähigkeit zur Selbstregulation
- das klare Wahrnehmen der eigenen Bedürfnisse
- differenzieren können zwischen Vergangenheit und Gegenwart
- ein emotionaler Abstand anstatt emotionale Verstrickungen
- differenzieren zwischen ICH – DU
- differenzieren zwischen Eigenem und Fremden/ Übernommenen
An der Grenze findet Kontakt statt. Erst mit der Kontaktgrenze können Verbindung, Austausch und Entwicklung überhaupt entstehen. Symbiotische Anpassungsstrategien verhindern echten Kontakt, hemmen die Entwicklung und führen zu Beziehungskonflikten.
Die gesunde Grenze überwindet das Paradoxon zwischen Bindung und Freiheit.
Symbolisch kann man Autonomie beschreiben, den eigenen Raum zu bewohnen und mit sich selbst verbunden zu sein. Jeder Mensch spürt ziemlich genau „Das bin ICH“ oder „Das bin nicht ICH“. Oft fehlt genau diese gesunde Grenze, um bei sich selbst zu sein und zum Ausdruck zu kommen.
Eine gesunde gesunde Grenze bezieht den anderen immer mit ein. Der Blick auf die eigenen Bedürfnisse heißt nicht, sich über die anderen hinweg auszuleben und damit die Grenzen anderer zu überschreiten. Im Gegenteil werden mit der autonomem Haltung die Grenzen der anderen respektiert und auch Nein vom Gegenüber gelassen akzeptiert.
ENTWICKLUNGSTRAUMA – HEMMUNG DER AUTONOMIEBESTREBUNG
Die Entwicklungsblockaden oder Entwicklungsstillstände können unter dem Entwicklungstrauma zusammengefasst werden.
Eltern hemmen die autonome Entwicklung des Säuglings durch Empathiemangel, unbewussten Ängsten, eigenen unaufgearbeiteten emotionalen Verstrickungen und Traumatisierungen. Kinder fühlen sich nicht gesehen oder gehört. Sie bekommen eine falsche Spiegelung, müssen den Vorstellungen der Eltern entsprechen, werden abgewertet, bloßgestellt, über Leistung definiert oder Bedürfnisse werden falsch interpretiert. In der Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind findet kein echter Kontakt statt.
Kinder sind in den ersten drei Lebensjahren auf die Co-Regulation der Bezugsperson angewiesen, da sie ihre Erregung bei Stress oder Angst noch nicht selbst regulieren können. Ist die Bezugsperson selbst gestresst und oder mangelt die Fähigkeit einfühlsam das Kind zu unterstützen, hat dies massive Auswirkungen auf das Kind. Studien zeigen, dass bei regelmäßigen Stresserfahrungen Kinder kleinere Gehirne und Schädigungen auf Metabolismus, Physiologie und neuroyale Verschaltungen aufweisen (Brisch 2022).
Entwicklungstraumata treten in der Gesellschaft häufiger auf als die im allgemeinen mit dem Traumabegriff verbundenen Schocktraumata. Einzelne Ereignisse spielen bei der Entstehung von seelischen Strukturen eine untergeordnete Rolle.
Unsere destruktiven Muster sind auf die kontinuierlichen subtilen Verzerrungen in der Interaktion zwischen Kind und Bezugsperson zurückzuführen. Sie sind auf den ersten Blick kaum wahrnehmbar und es braucht Zeit als Erwachsener die seelischen Verwirrungen aufzudecken, ganz zu sich selbst zu finden und aus sich heraus das eigene Leben zur gestalten.
SYMBIOTISCHE ANPASSUNGSSTRATEGIEN SIND ENTWICKLUNGSBLOCKADEN HIN ZUR AUTONOMIE
Im therapeutischen Prozess sind wir mit den früh erlernten symbiotischen Anpassungsstrategien konfrontiert. Diese Überlebensstrategien trennen uns von uns selbst und führen zu Selbstablehnung, Selbstentwertung und Selbstverlust sowie seelischen und körperlichen Symptomen. Sie sind hoch stressbeladen und lassen uns in einem Funktionsmodus agieren anstatt aus uns selbst heraus. Dies zeigt sich im Alltäglichen durch Perfektionismus, viel leisten müssen, Funktionieren, Analyse oder sich in Größenillusionen oder Traumwelten zu verlieren als auch in der Depression, Energieverlust, Erschöpfung.
Je früher die Anpassungsmuster entwickelt wurden, teils schon im Mutterleib, desto stärker werden sie als ein Teil der Persönlichkeit empfunden. Die Muster sind so „einverleibt“, dass es oft gar keine Vorstellung von einem eigenen Raum, einer Grenze oder Selbstverbindung gibt. Gefühlt steht man ständig unter Strom, ist getrieben, orientiert sich am Außen, ordnet sich unter und hat eher wenig Empfindungen der Zufriedenheit, Gelassenheit und Neugier. Der Körper ist chronisch dysreguliert, d.h. chronisch gestresst.
> Symbiose ist die Flucht des überforderten Kindes
Symbiotische Anpassungsstrategien bzw. Kompensationsmuster sind:
- die unbewusste Übernahme der emotionalen Last der Eltern und früheren Generationen (Identifikation)
- Unterdrückte Aggression, die sich gegen sich selbst richtet anstatt gegen den Aggressor (Retroflexion)
- Anpassung an andere und Orientierung am Außen
- Manipulation und Dominanz, um andere von sich abhängig zu machen oder Anerkennung zu bekommen
- Überabgrenzung > Pseudoautonomie
Die symbiotischen Anpassungsstrategien hemmen die Entwicklung zur Autonomie und führen über die Dauer zur Selbstentfremdung, Selbstverlust, körperlichen und seelischen Symptomen durch den damit verbundenen chronischen Stress.