MANGELNDES SELBSTWERTGEFÜHL: Die Entwicklung des Selbstwertes
Ein mangelndes oder brüchiges Selbstwertgefühl belastet Beziehungen, macht sie schwierig, anstrengend und kräftezehrend. Jegliche Leichtigkeit geht irgendwann verloren. Vorwürfe, Kränkungen, Konflikte und Streit werden immer häufiger, unterschwellige Spannungen werden zum Dauerzustand. Dabei könnte alles so leicht sein mit einem gesunden Selbstwertgefühl.
Die Entwicklung unseres Selbstwertes
Unser Selbstwertgefühl entwickelt sich weitgehend in den ersten sechs Lebensjahren, wobei die Schwangerschaft und Geburt miteingeschlossen sind und einen nicht unerheblichen Einfluss auf den Start ins Leben haben. Der Selbstwert bleibt dann relativ konstant.
Entgegen der weit verbreiteten Annahme, dass die Gene beim Selbstwert eine Rolle spielen, weiß man heute aus der Forschung, dass dies nicht der Fall ist. Unser Selbstwert entsteht maßgeblich durch unsere Beziehungserfahrungen. Gestörte Bindungserfahrungen sind daher die primäre Ursache für ein mangelndes Selbstwertgefühl, während positive Bindungserfahrungen die Basis für ein gesundes Selbstwertgefühl sind.
Unsere Bindungen prägen unseren Selbstwert
Ein mangelnder Selbstwert ist die Folge frühkindlicher Entwicklungsstillstände, die durch eine gestörte bzw. stressbeladene Bindung zu den Bezugspersonen entstehen. Stress blockiert Entwicklung, friert sie bildlich ein. Entwicklung kann nur stattfinden in einer sicheren Umgebung. Der britische Psychoanalytiker Winnicott beschreibt es als die „holding environment“, die jedes Kind braucht, um sich auf natürliche Weise nach den eigenen Fähigkeiten zu entwickeln.
Ein Kind braucht keine perfekte Eltern, aber eine Bezugsperson, die Halt gibt, Selbstvertrauen schenkt und das Kind in seiner Selbstständigkeit unterstützt, indem die Bedürfnisse schnell erkannt und befriedigt werden. Dazu müssen die Bezugspersonen selbst über ein hinreichend gesundes Selbstwertgefühl, innere Stabilität und emotionale Unabhängigkeit verfügen. Sind die Entwicklungsbedingungen durch die mangelnde Fähigkeit der Bezugspersonen erschwert, auf die Bedürfnisse der Kindes adäquat einzugehen, kommt es zu Entwicklungsstillständen und in der Folge zu Anpassungs- bzw. Überlebensstrategien des Kindes.
Gestörte Bindungserfahrungen sind enorme Stresserfahrungen des Kindes, die häufig schon während der Schwangerschaft vorkommen und sich dann in verschiedenen Formen immer wiederholen. Kann die Bindungsperson den notwendigen Schutz, emotionalen Halt und Sicherheit nicht geben, kommt ein Kind in Stress. Da ein Säugling oder Kleinkind Stress noch nicht selbst regulieren kann, ist es abhängig von einer Bezugsperson, die feinfühlig auf das Kind eingeht und beruhigt. Kinder sind immer abhängige Wesen.
Im Allgemeinen wird bei Bindungsstörungen häufig an Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung, Verluste gedacht. Doch gestörte Bindungserfahrungen sind viel breiter und zeigen sich im Alltag durch eine Vielzahl an destruktiven Interaktionen. Steht man in der U-Bahn, im Geschäft oder auf der Straße kann man immer wieder beobachten, wie teils mit Kinder umgegangen wird – distanzlos, übergriffig, abwertend, bewertend, vergleichend, bloßstellend, anmaßend, manipulierend, erpressend, emotionsgeladen, nicht-wahrnehmend. So kann kein gesunder Selbstwert entstehen.
Auch spannungsgeladene Atmosphären haben einen starken Einfluss auf den Selbstwert eines Kindes. Eltern, die sich oft streiten oder auch gegenteilig harmoniesüchtig sind, sich nicht um sich selbst kümmern können und bedürftig sind oder permanent gestresst oder unzufrieden sind, macht es Kindern schwer, ein gesundes Selbstwertgefühl und Unabhängigkeit zu entwickeln. Kinder geraten dann emotional zwischen die Eltern und leben selbst in einer Dauerspannung oder entwickeln ein falsches Verantwortungsgefühl gegenüber den Eltern. Wenn Eltern sich selbst in ihren Bedürfnisse nicht achten, lernen Kinder, dass sie ihre Bedürfnisse auch unterdrücken müssen mit dem Resultat einer enormen Aggressionen gegenüber den Eltern.
Häufig ist auch zu beobachten, wie Bezugspersonen die Regungen der Selbstständigkeit der Kinder einschränken und unterbrechen. Die Ängste vor einer Trennung oder der Individuation des Kindes, blockieren die weitere Entwicklung und führen zu emotionalen Verstrickungen mit den Bezugspersonen, die sich später im Leben zeigen können in Schuldgefühlen oder Verpflichtungsgefühlen den Eltern gegenüber. Das Problem liegt nicht beim Kind, sondern bei der Trennungsschwierigkeit der Bezugsperson. So kommt es häufig zu offenen oder unausgesprochenen Doppelbotschaften „Werde selbstständig“ und „Verlass mich nicht“ oder „Lebe dein Leben, aber nur so wie ich mir das vorstelle“.
Selbstregulation für einen stabilen Selbstwert
Für die Entwicklung eines gesunden Selbstwertes gehört auch eine stabile Selbstregulation. Sich im eigenen Körper zuhause fühlen. Dazu gehören Freude, Liebe, Motivation genauso halten zu können wie schwierige Emotionen. In einem regulierten Zustand handelt man kongruent mit den eigenen Zielen, Bedürfnissen und Wünschen, was unser Selbstwertgefühl positiv beeinflusst.
Ein Kind kann sich noch nicht selbst regulieren und ist auf die Co-Regulation der Bezugsperson angewiesen. Je besser die Bezugsperson sich selbst regulieren kann, desto besser kann auch ein Kind mit schwierigen Gefühlen umgehen und einen gesunden Rhythmus zwischen Spannung und Entspannung entwickeln.
Transgenerationale Weitergabe des mangelnden Selbstwertgefühls
Da unser Selbstwertgefühl maßgeblich durch unsere frühen Beziehungserfahrungen geprägt ist, spielt die transgenerationale Weitergabe von Erfahrungen und Traumata eine bedeutende Rolle. Gerade Glaubenssätze, die einen starken Einfluss auf unser Selbstwertgefühl haben, sind häufig sehr alt und werden von Generation zu Generation weitergegeben. Wie ein Korsett schnüren sie junge Generationen ein oder binden destruktiv an Familiensysteme.
Eltern haben kaum eine andere Möglichkeit sich anders zu verhalten, wie sie selbst es erlebt haben, wenn keine entsprechende therapeutische Aufarbeitung stattgefunden hat. Längsschnittstudien zeigen, dass die Bindungserfahrungen aus der eigenen Kindheit in die Interaktionen mit unseren Kindern eingehen (K.H. Brisch). Für Eltern ist es oft ein schmerzliches Erlebnis, wenn sie feststellen trotz bester Absichten nicht anders handeln zu können als sie es selbst erfahren haben und durch einzelne Situationen vielleicht sogar getrigggert werden. Da wird es schwer möglich sein, ein gesundes Selbstwertgefühl mit einer stabilen Selbstregulation weiterzugeben.
Würde bracht ein Gegenüber
Kinder wird häufig abgesprochen, dass sie bereits eine vollständige Person sind und werden wenig bis gar nicht in ihren Grenzen respektiert. Auch wenn sie abhängig sind von einer Bezugsperson, haben sie doch ihre Würde. Die Machtdemonstration und Machtausnutzung von Erwachsenen ist oft unerträglich zum Ansehen.
Kinder, die von Beginn an in ihren Grenzen gewürdigt und respektiert werden, die ihre Grundbedürfnisse nach Autonomie, Liebe, Kontakt, Resonanz und Vertrauen erfüllt bekommen, werden später auch die Grenzen anderer Menschen ohne Probleme respektieren können. Sie werden die Grenzen anderer achten und werden diese nicht als Ablehnung, Ausgrenzung oder Kränkung empfinden. Der Selbstwert bleibt stabil und damit können Beziehungen mit einer gesunden Regulation von Nähe und Distanz gelebt werden.
Auch im vorsprachlichen Alter können Eltern mit ihren Kindern verhandeln, ihre eigenen Bedürfnisse benennen ohne dem Kind die Verantwortung zu geben und einen respektvollen Umgang im Alltag etablieren. Kinder verstehen sehr genau auf der intuitiven Ebene, worum es geht und bekommen alles an Stimmungen, Atmosphären und Gefühlen mit.
Jeder Mensch braucht Resonanz, um sich in seinem Sein zu entfalten. Selbstliebe, Selbstachtung und Würde können nicht durch uns alleine entstehen. Es braucht ein Gegenüber. Im besten Fall die bedingungslose Liebe der Eltern. Wir brauchen Menschen, die uns Zugehörigkeit vermitteln und uns in unserer Unverwechselbarkeit sehen. Zugehörigkeit zeigt sich durch die nährende Resonanz von anderen:
- „Du gehörst dazu“
- „Ich interessiere mich für dich“
- „Ich nehme dich wirklich wahr“
- „Ich respektiere deine Grenzen“
Diese Botschaften in Beziehungen nähren unseren Selbstwert. Sie schaffen einen respektvollen und liebevollen Umgang, der uns innerlich aufbaut und uns wachsen lässt. Jeder Mensch braucht wohlwollende Menschen und ein Umfeld, wo er sich gesehen, gehört und angenommen fühlt.
Ein mangelndes Selbstwertgefühl wieder stärken
Mit dem Kopf lassen sich Selbstwertthemen nicht lösen. Wir können noch hundertmal vorm Spiegel uns positive Affirmationen zusagen, doch wenn die schmerzliche Erfahrung dahinter nicht geheilt und emotional verarbeitet ist, bleiben es nur leere Sätze. Im Netz gibt es überall Tipps & Tricks, wie man seinen Selbstwert aufbaut. Aus meiner Erfahrung bringen die meisten Ratschläge wenig und führen eher genau zum Gegenteil, dass der Selbstwert weiter sinkt, wenn all die Versuche nicht funktionieren. Dazu kommen dann häufig noch Gefühle der Scham und Schuld, die den Weg zusätzlich erschweren.
Ein mangelndes Selbstwertgefühl zeigt sich in den vielen selbstschädigenden tagtäglichen Mustern:
- Wir fühlen uns für andere über die Maßen verantwortlich
- Wir tun alles oder tolerieren alles, um Anerkennung oder Liebe zu bekommen
- Wir passen uns an anstatt zu verhandeln
- Wir geben anderen Menschen Macht über unser Gefühlsleben und unser Sein
- Wir können keine Grenzen spüren, setzen und respektieren
- Wir helfen anderen, um gesehen zu werden
All den Mustern ist gemein, dass wir uns selbst nicht achten. Wir machen unseren Selbstwert abhängig von der Meinung anderer oder von unserer Leistung. Doch das ist ein Trugschluss. Niemand kann uns soviel geben, dass wir uns wert fühlen, wenn wir uns selbst nicht wert fühlen. Im Gegenteil schwächt diese Abhängigkeit wiederum unseren Selbstwert und so entsteht ein Teufelskreislauf.
Ein positives Selbstwertgefühl braucht als Basis eine stabile Selbstverbindung und eine gute Beziehung zu unserem Körper. So dass wir spüren können, dass wir den Wert und die Würde aus uns selbst heraus haben – ganz ohne Leistung. Dann erst finden wir die Resonanz auch bei anderen ohne uns abhängig von ihnen zu machen.
Da unsere Anpassungsstrategien sehr früh in den Beziehungserfahrungen mit unseren Bezugspersonen erworben wurden, müssen wir auch dort unseren Blick hinwenden. Nicht gesehen oder gehört worden zu sein, kann Schamgefühle auslösen. Denn als Kind stellen wir nicht unsere Eltern in Frage, sondern immer uns selbst: „Was stimmt mit mir nicht, dass ich nicht wahrgenommen oder geliebt werde?.
Als Kind sind wir auf die Zuwendung und Anerkennung der Eltern angewiesen. Wenn wir erwachsen sind, sind wir dazu angehalten, eigenverantwortlich zu handeln und uns genau diese Gegenüber zu suchen, wo wir uns wohl fühlen. An destruktiven Beziehungen festzuhalten oder andere Menschen ändern zu wollen, ist häufig verschwendete Liebesmüh. Und so müssen wir uns üben im Loslassen. Loslassen an nicht tragfähigen Beziehungen und eigenen schädigenden Mustern, die uns immer wieder die gleichen enttäuschenden Erfahrungen bescheren.
Emotional loslassen von unseren Eltern und dem Schweren von damals ist nicht leicht, gerade wenn wir viel Stresserfahrungen durch Alleinsein, emotionale Verlassenheit, Nicht wahrgenommen werden, Abwertungen oder Gewalt gemacht haben. Zu spüren, dass die Vergangenheit vorbei ist und wir erwachsen sind, macht frei und bringt uns wieder zu uns selbst. Dafür braucht es Geduld, eine Portion Mut und den Willen zur Veränderung. Sich selbst zu achten, lässt uns in Würde wieder aufrichten.