Warum es uns so schwer fällt, schmerzliche Erfahrungen hinter uns zu lassen
In einer Talkshow sprach ein Psychotherapeut über den Tod seiner Ehefrau und sagte: „Unsere Verbindung stirbt nie. Über den Schmerz bleiben wir verbunden.“ Dieser Satz berührte mich. Er zeigt, wie tief es in uns Menschen verankert ist, über Schmerz und Leid Verbindung zu halten anstatt über Liebe, Freiheit und Lebendigkeit. Wir halten an Verstorbenen fest, an vergangenen Erfahrungen, an Beziehungen, die längst vorbei sind. Es scheint, als wollten wir über den Schmerz das Festhalten legitimieren.
Aus meiner therapeutischen Erfahrung möchte ich jedoch eine andere Sicht einbringen. Wir müssen uns nicht über den Schmerz verbinden oder daran festhalten, um Erinnerungen zu bewahren. Ganz im Gegenteil. Im Loslassen liegt das Wunder von Bindung und Freiheit. Es macht einen gewaltigen inneren Unterschied, ob wir uns im Schmerz oder in der Liebe mit dem Leben verbunden fühlen.
Trennung als Teil von Verbundenheit
Zur Verbundenheit gehört unweigerlich auch Trennung. Doch darüber sprechen wir kaum. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf Zugehörigkeit, Verbindung, Nähe, ohne den untrennbaren Aspekt des Loslassens wirklich zu thematisieren. Das ist verständlich. Denn Trennung macht Angst. Das Wort allein löst Widerstand aus. Es klingt nach Verlust, nach Leere, nach etwas, das wir vermeiden wollen. Doch das Leben selbst besteht von Beginn an aus Trennungen. Schon bei der Geburt werden wir durch das Durchtrennen der Nabelschnur von der Mutter getrennt und nur dadurch lebensfähig.
Entwicklung ist nicht ohne Trennung möglich. Wachstum braucht Veränderung. Und Veränderung bedeutet, etwas Altes geht zu Ende, damit etwas Neues entstehen kann.
Beziehungen brauchen Grenzen, den gesunden Abstand, um lebendig zu bleiben. Ansonsten landen wir schnell in emotionalen Verstrickungen, die Entwicklungen blockieren und emotional immer anstrengender werden.
Das Paradox des Loslassen
Wir alle haben begrenzte Ressourcen: Zeit, Energie, Geld, Gesundheit. Jeden Tag entscheiden wir uns für etwas und lassen damit etwas anderes los. Das Leben fordert uns heraus, zu wählen, zu verzichten, Abschied zu nehmen. Wir verabschieden uns von Hoffnungen, von Idealen, von Menschen, von Lebensphasen. Und manchmal trifft uns das Leben mit Trennungen, die wir uns nicht ausgesucht haben durch Verlust, Krankheit oder Tod.
Loslassen ist nicht immer gleichbedeutend mit Schmerz. Loslassen kann auch Zufriedenheit oder Freiheit bedeuten. Vielleicht kennst du die Erfahrung nach einem erfüllten Urlaub. Du hast alles ausgekostet, nichts aufgeschoben. Das Ende fühlt sich nicht traurig an, sondern rund. Stimmig. Vollständig.
In der Gestalttherapie spricht man davon, dass sich eine Gestalt geschlossen hat. Ein Prozess ist vollendet. Ein Bedürfnis wurde gespürt, gelebt, befriedigt und darf nun gehen. Das Nächste darf gespürt und ins Leben gebracht werden. Je mehr wir uns auf das Leben einlassen, es spüren, desto genährter fühlen wir uns. Wer satt ist, kann loslassen. Einfach und leicht aus einem inneren Impuls.
Was uns am Loslassen hindert
Loslassen fällt dann schwer, wenn wir innerlich nicht satt sind. Wenn wir nicht genährt wurden – emotional, körperlich, seelisch. Besonders in unserer frühen Kindheit. Haben wir zu wenig Sicherheit, Liebe, Zuwendung erfahren, dann entsteht ein innerer Mangel. Dieser Mangel hindert, dem Leben zu vertrauen.
Statt sich dem Neuen zuzuwenden, blicken wir zurück. In der Illusion, doch noch zu bekommen, was damals gefehlt hat. Unbewusst klammern wir uns an Bezugspersonen, auch wenn diese vielleicht längst nicht mehr Teil unseres Lebens sind. Wir bleiben innerlich gebunden, nicht aus Liebe, sondern aus einem tiefen Mangel, aus Angst oder Schuldgefühlen.
Diese unsichtbaren seelischen Bindungen zeigen sich deutlich in der therapeutischen Arbeit. Besonders in der Aufstellungsarbeit treten emotionale Verstrickungen zutage, die uns gefangen halten. Wir erleben das Gefühl, dass wir festgehalten werden von dem Schmerz, von unseren frühen Bezugspersonen.
Doch in Wahrheit ist es genau andersherum. Nicht die alten Verletzungen, der Schmerz, das Trauma oder andere Menschen halten uns fest. Wir halten fest. Aus Angst, aus Sehnsucht, aus dem Wunsch, es noch einmal zu wenden oder in der Illusion etwas kontrollieren zu können. Doch das Leben fordert den Mut zur Trennung. Den Mut, Vergangenes innerlich loszulassen und weiterzugehen. Die Vergangenheit ist vergangen. Daran lässt sich nichts verändern.
Das was wir als Kind gebraucht hätten, werden wir nicht mehr von den Eltern bekommen. Das was wir bekommen haben, können wir nehmen zum vollen Preis. Und das, was wir nicht bekommen haben, können wir uns jetzt woanders holen. Die Trauer über das Fehlende hilft beim Loslassen und führt uns emotional ins Hier & Jetzt.
Innere Ruhe durch Abschied
Innere Ruhe beginnt dort, wo wir unsere Bindung an den Schmerz bewusst erkennen und entscheiden, nicht länger in ihm zu verweilen. Das bedeutet nicht, zu vergessen. Wir können das Vergangene nicht ungeschehen machen. Doch wir können daran arbeiten, dass das Erlebte ein Teil unserer Geschichte wird. Ein Teil, den wir mit gesundem Abstand betrachten können, ohne dass er uns daran hindert, in der Gegenwart zu leben und Freude zu erfahren.
Wir können uns aus emotionalen Verstrickungen lösen und falsche Schuld-, Pflicht- oder Verantwortungsgefühle zurückgeben. Anstatt über den Schmerz verbunden zu bleiben, dürfen wir eine neue Qualität von Verbundenheit erfahren – in innerer Freiheit.
Diese Entscheidung ist eine wichtige Voraussetzung, um überhaupt durch diesen tiefen und schmerzhaften Prozess gehen zu können. Warten wir darauf, dass unser Gefühl den ersten Schritt macht, bleiben wir im Schmerz verhaftet. Denn das Gefühl allein will festhalten, hofft, zögert, klammert sich an eine Illusion: dass sich doch noch etwas ändern lässt, dass es rückgängig gemacht oder kontrolliert werden kann.
Gerade in der Aufstellungsarbeit zeigt sich, wie sehr wir uns in der Vergangenheit emotional zuhause fühlen. Wie vertraut es uns geworden ist, dort zu verweilen, weil es eine Illusion von Sicherheit vermittelt. Doch diese Sicherheit ist trügerisch. Die Gefühle sind verwirrt. Sie orientieren sich nicht am Hier und Jetzt, sondern an alten Mustern.
Deshalb braucht es den klaren, erwachsenen Verstand. Einen inneren Anteil, der erkennt: die Situation ist vorbei. Sie liegt hinter mir. Und genau dieser klare Blick öffnet die Tür ins Leben. Wenn wir die Vergangenheit als vergangen erfahren, können wir im Jetzt ankommen und unsere Wahl- und Handlungsmöglichkeiten für das eigene Leben auskosten.
Häufige Fragen zu Schmerz und Loslassen
Weil wir hoffen, doch noch zu bekommen, was früher gefehlt hat – Sicherheit, Liebe, Zuwendung. Unbewusst bleiben wir verbunden, nicht aus Liebe, sondern aus Mangel oder Schuldgefühlen.
Loslassen heißt, einen emotionalen Prozess zu vollenden. Eine innere Gestalt schließt sich, wenn ein Bedürfnis gespürt, gelebt und befriedigt wurde. Dann kann Neues entstehen.
In Aufstellungen zeigen sich unbewusste Bindungen an alte Bezugspersonen. Die Arbeit hilft, diese zu erkennen, zu würdigen – und dann bewusst loszulassen, um im Hier und Jetzt anzukommen.