GEBURTSTRAUMA: ERINNERUNGEN AN DIE GEBURT
Untersuchungen zeigen, dass 45% der Säuglinge schwere Formen von Geburtstraumata haben. 50% der Säuglinge haben leichte bis mäßige traumatische Erfahrungen, die auch durch die Eltern wieder aufgelöst werden können.
Geburtserinnerungen treten in den verschiedenen Therapieformen spontan auf. Wir haben keine bewusste Erinnerung an unsere Geburt, aber in unserem Körper sind alle Informationen gespeichert und auch wieder abrufbar. Manchmal gibt es auch Informationen von den Eltern, ob man beispielsweise ein erwünschtes Kind war, die Elternbeziehung gespannt war oder es eine schwierige Geburt war.
Bei der Aufstellungsarbeit zeigen sich immer körperliche Reaktionen, wenn ein pränatales Trauma erstmal als Hypothese aufgestellt wird. Denn in der Regel kommen Klienten mit Symptomen oder Blockaden in die Therapie ohne die Ursache zu kennen. Die Folgewirkungen von pränatalen Traumata äußern sich über die unbewussten Anteile der menschlichen Psyche. Diese zeigen sich in Gedanken, Einstellungen, Gefühlen, Überzeugungen, Wahrnehmungen und körperlichen Erinnerungen, die man nicht bewusst wahrnimmt. Im therapeutischen Prozess wird die Aufmerksamkeit auf die unbewusste innere Gefühlswelt gelegt, um diese zu erforschen. Jetzt treten die ganzen unangenehmen, verdrängten Gefühle ins Gewahrsein, um mit Zeit und Geduld verarbeitet zu werden. Therapie ist Schwerstarbeit. Der unverarbeitete Stress wird Schritt für Schritt verarbeitet und nur so viel, wie der Klient gerade wieder regulieren kann. Das braucht Zeit, da der Körper die Selbstregulation erst lernen muss.
Erinnerungen an die Geburt werden im Körper wach, die in ihrer Symbolik oder Dynamik den vorgeburtlichen Erfahrungen oder der Geburt ähneln. Das können im erwachsenen Leben berufliche wie auch private Situationen sein. Im späteren Leben erleben wir immer wieder ähnliche Situationen, die auf eine unverarbeitete traumatische Erfahrung Bezug nehmen.
Beispielsweise wurde ein fehlendes Vorankommen (Geburtskanal) bei einer Person in jeder späteren Lebenssituation (berufliche Beförderung) immer wieder aktiviert. Die Nabelschnur um den Hals hat eine immense Angst bei einer Klientin vor Bindung erzeugt, da Nähe/Versorgung mit Tod verknüpft wurde. Oder ein Klient wurde von seinem Vater früh verlassen. Später schuf er ständig Situationen des Verlassenswerdens in Partnerschaften.
Wir sind es selbst, die das Trauma immer und immer wieder unbewusst reinszenieren, da wir am Trauma unbewusst festhalten anstatt es loszulassen und in die Vergangenheit zu geben. Daher ist der Blick in die eigene Geschichte so wichtig, um unbewusste Wiederholungen aufzulösen. Die Umwelt ist „nur“ der Auslöser. Die traumatische Erfahrung ist im Körper gespeichert und der Körper erinnert sich, wenn es einen Bezug zur Geburt geben sollte.
DIE ERSTEN 9 MONATE
In den ersten neun Monaten lernt der Mensch mehr als in seinem Leben nach der Geburt. Hirnforscher zeigen neue Erkenntnisse, dass ein ungebornes Kind eben kein Zellhaufen ist oder von einem genetischen Programm vorprogrammiert ist. Das Gegenteil ist der Fall. Die äußere Umwelt, das Verhalten und die Stimmungslage der Mutter haben einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Kindes von Beginn an. Schon mit einer Größe von 2,5 cm ist der Fötus berührungsempfindlich und reagiert mit dem Körper auf Berührungen. Bei Abtreibungen zwischen der 21. und 23. SSW schreit der Fötus hörbar.
Das Ungeborene ist in ständiger Kommunikation mit der mütterlichen Umgebung und braucht von Anfang an Beziehung, um das eigene Potential selbstorganisiert zu entfalten. Dabei sind die Kinder auf die Eltern angewiesen, die den Kindern eine Umgebung der Geborgenheit und Sicherheit schenken sowie auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen. Jeglicher Stress der Mutter, ihre Angst, Spannungen zwischen dem Partner, treffen ungefiltert auf das Ungeborene. Das unfertige Gehirn des Kindes beginnt mit enormen Anpassungsleistungen die Stresssituationen zu bewältigen, eigene Potentiale zu unterdrücken und entwickelt bereits Überlebensstrategien.
Die Vorstellung der Vererbung von bestimmten Eigenschaften ist heute weit überholt. Wir wissen, dass das menschliche Genom sich seit etwa 100.000 Jahren nicht mehr verändert hat und unsere Mimik, Gestik, Gefühle von unseren Eltern gelernt und nicht genetisch vererbt wird. Forscher und Therapeuten sprechen hier von der transgenerationaler Weitergabe erworbener Eigenschaften. Bei Traumatisierungen spielen die transgenerationalen Traumata eine wichtige Rolle bei der Lösung von Symptomen und Blockaden.
In der intrauterinen Lebenswelt (in der Gebärmutter) verankern sich bereits bestimmte Verhaltensmuster im Gehirn. Alle Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ein Kind mit auf die Welt bringt, hat es im Mutterleib kennengelernt, sich angeeignet und geübt.
„Genau genommen, so lautet eine der wichtigsten Erkenntnisse der Hirnforscher und Entwicklungspsychologen, ist das Gehirn des Kindes so beschaffen, dass es gar nichts wirklich Neues zu lernen imstande ist. Es kann immer nur etwas Neues zu dem bereits vorhandenen Wissen und den bereits erworbenen Fähigkeiten hinzulernen. Neues muss also immer an bereits Vorhandenes anknüpfbar, assoziierbar sein. Das gilt natürlich auch schon für all jene Lernprozesse, die vor der Geburt stattfinden.“ (Gerald Hüther 2020).
Der Einfluss der werdenden Eltern
Der Einfluss der werdenden Eltern wurde in der Vergangenheit und teils auch heute noch unterschätzt. Die Mutter mit ihrer Stimmung, Emotionen, Einstellung, eigenen elterlichen Prägung, Umgang mit Stress, Sorgen und Belastungen, Ernährung sind genauso wichtige Einflussfaktoren wie finanzielle, sozioökonomische und politische Bedingungen. All das hat einen wesentliche Einfluss auf das Wohlbefinden der Schwangeren. Ebenso ist die Beziehung der Eltern ein wichtiger Faktor für die Entwicklung des Ungeborenen.
In der traumatherapeutischen Arbeit zeigt sich immer wieder, wie Kinder seelisch zwischen den Eltern stehen und versuchen zu vermitteln, auszugleichen, Harmonie zu schaffen, Spannungen zu reduzieren mit dem Preis der eigenen Lebendigkeit, Lebensfreude und inneren Freiheit. Kinder bekommen immer wieder eine Funktion, um bei den Eltern eine innere Leere zu füllen, einen Partnern an die Beziehung zu binden, den Lebenstraum der Eltern zu verwirklichen oder Bedürfnisse von Eltern zu befriedigen. Das ist eine schwere Last für Kinder und prägt sie mitunter für ihr ganzes Leben.
Neben der Mutter hat der Vater ebenso eine wichtige Bedeutung. So muss er seinen Verantwortlichkeiten bewusst sein und seine lebenslangen Verbindlichkeiten akzeptieren. Dazu muss der Vater innerlich zu einem reifen Mann herangewachsen sein und sich auch von seiner Ursprungsfamilie gelöst haben, um sich auf die eigene Familie zu konzentrieren. Denn diese steht ab diesem Zeitpunkt im Vordergrund und bedarf des eindeutigen Commitments und Schutzes.
Erregungsmuster
In der therapeutischen Arbeit bin ich mit Erregungsmustern konfrontiert, die als Teil der Persönlichkeit empfunden werden: „Bei jeder kleinen Abweichung bin ich auf 180.“, „Mir schwirren ständig Gedanken durch den Kopf.“, „Ich kann nicht einschlafen und finde keine Ruhe.“, „Ich komme nicht in meine Kraft und fühle mich wie gelähmt.“, etc. sind Aussagen zu inneren Erregungsmustern.
Erregungsmuster bilden sich schon in der intrauterinen Lebenswelt. Auf das sich entwickelnde Gehirn treffen Signale, die sich zu Reaktions- und Handlungsmustern formen und zeitlebens bestimmend sind für alle nicht bewusst wahrnehmbaren Eindrücke. Als Säugling werden diese Erregungsmuster durch die Bezugspersonen verstärkt, indem wie sie auf die Kinder reagieren und sich auf die Bedürfnisse des Kindes einstellen können oder nicht. Diese Erfahrungen sind Basis für die Selbstregulationsfähigkeit eines Kindes, was wiederum mit der Erfahrung der inneren Ruhe, Stabilität, Selbstvertrauens und eines gesunden Selbstwerts bzw. mit dessen Gegenteil korreliert.
Die Nabelschnur und unsere Sinne als seelische Verbindung
Die Nabelschnur ist die Brücke zwischen Mutter und Kind. Neben der Versorgung des Kindes wird auch das emotionale Erleben der Mutter durch die hormonellen Veränderungen, der Herzfrequenz oder der Stresshormone bei Angst transportiert. Das Baby reagiert bei einem Angstreiz mit wildem Zappeln oder mit Erstarren. Wenn eine Mutter in der Lage ist, alle Gefühle zu fühlen, die schwierigen wie die angenehmen, so fördert dies auch die emotionale Entwicklung des Kindes und stellt eine breite Emotionslandschaft zur Verfügung. Auch alle Sinne sind aktiv und transportieren das emotionale Erleben der Mutter an das Kind. Ist die Mutter hektisch und gestresst, bewegt sie sich anders als wenn sie gelassen und entspannt ist.
Stress- und Angstreaktion sind für Ungeborene schwer zu bewältigen und überfordern in massive Weise. Die Prozesse in dem sich noch in der Entwicklung befindliche Gehirn werden gestört und lösen eine Notfallreaktion aus. Wenn sich die Störung nicht auflöst, passt sich die Strukturierung des Gehirns der Störung mit dem entsprechenden Erregungsmuster an. Im Fall einer dauernden Übererregung wird das vorherrschende Erregungsniveau als normal empfunden und immer wieder versucht dieses herzustellen. So wird die Störung/ hohes Erregungsniveau zum Normalfall, welche uns wiederum in der therapeutischen Traumaarbeit immer wieder begegnet.
„Mütterlicher pränataler Stress kann zu psychischen Problemen beim Kind führen: zu einer Beeinträchtigung der kognitiven und emotionalen Entwicklung, zu Verhaltensauffälligkeiten, zu übermäßiger Erregbarkeit und Selbstregulationsstörungen. Bei Babys, die übermäßig viel schreien und Schwierigkeiten haben, zur Ruhe zu kommen und sich sicher zu fühlen, ist die Selbstregulationsfähigkeit durch vorgeburtliche Belastungen oft nur unzureichend entwickelt.“ (Gerald Hüther, Ingeborg Weser 2020)
THERAPEUTISCHES ARBEITEN MIT GEBURTSTRAUMA
Bei der Verarbeitung von Traumata geht es immer um die Wiederherstellung der Selbstregulation des Organismus, d.h. die Rückkehr des Organismus in den Normalzustand. Dazu müssen ungelöste Traumata nach Außen treten, so dass der Klient das Trauma „sehen und fühlen“ kann, um es dann zu bearbeiten und zu lösen.
Die lösungsorientierte Intensivtherapie mit den Online-Autonomie-Aufstellungen hat sich bei dem Erkennen und Lösen von pränatalen Traumata als sehr wirkungsvoll erwiesen. Insbesondere die damit verbundenen körperlichen Stresssymptome konnten gelindert und auch ganz aufgelöst werden. Da es sich um komplexe Themen handelt, braucht es Zeit und mehrere Aufstellungen, um immer tiefer zu arbeiten und eine stabile Struktur aufzubauen. Mit dem Aufbau der inneren Struktur wird die Selbstregualtionsfähigkeit gestärkt, Stress abgebaut und die innere Stabilität aufgebaut.
Kinder brauchen keine perfekten Bezugspersonen, sondern eine Holding Environment (Winnicott). Sie müssen die Erfahrung machen, dass Probleme lösbar sind, ihre Bedürfnisse und Wünsche ein Echo bekommen und sich in einem sicheren Umfeld ausprobieren und entdecken können. All die unverarbeiteten und traumatischen Erfahrungen der Eltern treffen ungefiltert auf das Kind ein und zwingen es zu Anpassungsleistungen. Es entwickelt sich anders als es sich aus sich selbst heraus entwickelt hätte. Daher ist die Aufarbeitung der eigenen Themen eine wichtige Basis für ein Kind, sich verbunden und frei entwickeln zu können, ohne die Altlasten der Eltern mitzutragen.