Scham – die tabuisierte Emotion
Scham ist eine der am meisten übersehenen Emotionen, zumindest bei Menschen, die in westlichen Kulturen leben. Schamgefühle können einen tiefgreifenden Einfluss auf den Grad der psychischen Anpassung und die Beziehungen zu anderen haben, aber diese Gefühle bleiben dennoch oft unentdeckt. Im Alltag sprechen wir selten über unsere Schamerfahrungen. Und auch in der Therapie braucht es einen vertrauensvollen Boden, bevor wir uns zeigen und von unseren Schamgefühlen erzählen.
Verleugnung und der Wunsch sich zu verstecken, gehören zur Phänomenologie der Scham selbst. Wir schrecken vor unseren eigenen Schamgefühlen zurück, genauso wie wie inmitten einer Schamerfahrung vor anderen zurückschrecken.
Schuld, Wut, Verzweiflung als getarnte Scham
Scham kann sich als andere Emotionen tarnen, sich hinter Schuld verstecken, hinter Wut lauern, Verzweiflung und Depression schüren. Scham wird oft mit Schuldgefühlen verwechselt – eine Emotion, die wir als Folge eines Fehlverhaltens erleben können, über das wir Reue empfinden und es wieder gut machen möchten. Auf eine Schuld folgt eine Entschuldigung beim Gegenüber, damit ist die Schuld beglichen.
Scham entwickelt sich jedoch ganz anders als Schuld. Es ist ein besonders schmerzhaftes Gefühl, weil es um unseren inneren Kern geht, nicht nur um das eigene Verhalten. Scham beinhaltet eine schmerzhafte Überprüfung des gesamten Selbst, ein Gefühl „Ich bin ein unwürdiger, inkompetenter oder schlechter Mensch“. Wir begegnen einem Gefühl des Schrumpfens, des Kleinseins. Wir fühlen uns wertlos und machtlos. Wir erleben uns anderen gegenüber als unwürdig und die Augenhöhe geht verloren.
Gesunde Scham – Ein natürlicher Schutzmechanismus
Gesunde Scham gehört zu unserer natürlichen Scham, die unseren intimen Raum schützt. Es ist ein wichtiges Gefühl für unsere Grenzen. Wenn wir etwas von uns zeigen, müssen wir uns beim Gegenüber sicher fühlen. Wir entscheiden, wem wir etwas zeigen und wem nicht. Der Schutz des intimen Raums ist auch in Partnerschaften wichtig. Oft höre ich, dass Menschen einen Druck verspüren, sich ganz öffnen und zeigen zu müssen, wenn sie jemanden näher kennenlernen. Dem ist nicht so! Auch wenn Paare Jahrzehnte verheiratet sind, hat jeder ein Recht auf seinen intimen Raum, das Recht nicht alles sagen und zeigen zu müssen. Das gehört zur Würde eines jeden Menschen dazu.
Die Sehnsucht sich zu zeigen und zu öffnen, liegt in jedem von uns. Wir wollen gesehen und berührt werden. Wir suchen die liebevolle Begegnung und Nähe zu anderen Menschen. Und es gibt zugleich auch Ängste, dass unserer intimer Raum verletzt wird.
Ein gesunder Umgang mit Scham erreichen wir, indem wir unsere eigene Scham durcharbeiten, sie zulassen und aushalten. Dann kann Scham sich zu einer konstruktiven Kraft entwickeln. Dr. Stephan Marks schreibt dazu:
- die emphatische Scham ermöglicht es, die Schamgefühle anderer mitzufühlen
- die Intimitäts-Scham befähigt uns, unsere körperlichen und seelischen Grenzen in Interaktion mit den Mitmenschen zu wahren
- die Gewissens-Scham wahrt die Integrität in Bezug auf die eigenen moralischen Werte und Ideale
- die Anpassungs-Scham sorgt für Konformität des Einzelnen mit den Erwartungen und Normen einer Gruppe oder der Gesellschaft
Es geht daher nicht darum, die Scham loszuwerden, sondern die eigene Scham zuzulassen und zu erforschen. Wo schützt sie mich und wo hindert sie mich?
Toxische Scham – Die Wurzel vieler psychischer Probleme
Scham ist ein Beziehungsgefühl. Toxische Scham entsteht in unseren frühen Bindungserfahrungen, wenn wir beschämt, erniedrigt, vernachlässigt, missachtet, abgewertet, misshandelt werden. Unerfüllte Kernbedürfnisse in der Kindheit führen zu Schamgefühlen, die sich in negativen Grundüberzeugungen widerspiegeln, wie „Ich bin nicht willkommen.“, „Ich bekomme nicht, was ich brauche“, „Ich vertraue niemanden“, „Ich stelle meine Bedürfnisse zurück“, „Ich bin nicht liebenswert.“
Wenn wir als Kinder nicht im Glanz der Augen der Eltern liebevoll gespiegelt werden, zeigt sich früh eine gestörte Eltern-Kind-Kommunikation. Allan Schore zeigt in Studien Hinweise, dass die Entwicklung bestimmter Gehirnregionen zurückbleiben und Betroffene in ihrem Denken, Handeln und Fühlen auf primitivere neuronale Systeme zurückgeworfen sind. In therapeutischen Prozessen können diese Regionen nachreifen, da ein Gehirn lebenslang veränderungsfähig ist.
Toxische Scham greift unsere Identität und unsere Würde an
Unsere natürliche Scham wird durch Beschämungserfahrungen und unerfüllte Kernbedürfnisse in der Kindheit geprägt und zugedeckt. So kommt es zu seelischen Verwirrungen, die sich in einem zu viel an Grenzen oder einer Grenzenlosigkeit äußern. Toxische Scham kann dazu führen, dass jeder lebendige Kontakt unter der Resonanzfläche bleibt und somit jeder Kontakt wieder abgebrochen wird. Auch zu uns selbst und unseren Gefühlen, wenn Erregung mit Scham verknüpft ist. So wird jede Erregung, egal ob Freude, Ärger, oder Liebe in ihrer Entstehung wieder ausgebremst.
Kränkungen machen krank. Der Mangel an Anerkennung kann schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben. Es kann einem regelrecht das Herz brechen, wenn die emotionalen Enttäuschungen zu stark sind. Beschämungen, Missachtung, Abwertungen bedeuteten einen enormen unkontrollierbaren sozialen Stress.
Wer sich schämt, kann dies in unterschiedlicher Intensität erleben und verschiedene Abwehrmechanismen entwickeln, wie sich verstecken, sich einigeln, emotional erstarren. Sehr häufig ist die Projektion. Wir projizieren eigene unerwünscht Eigenschaften auf andere und werten diese ab. Eigene Schamgefühle werden auch abgewehrt, indem wir andere dazu bringen sich zu schämen und sie vor anderen lächerlich machen. Weitere Abwehrmechanismen sind Verachtung, Zynismus, Negativismus, Schamlosigkeit, Arroganz, Groll, Neid, Trotz, Wut, Größenphantasien, Idealisierung, Perfektionismus, Sucht.
Therapeutische Ansätze zur Heilung von toxischer Scham
Die Arbeit mit toxischer Scham erfordert einen behutsamen und strukturierten Ansatz. Betroffene müssen lernen, die Scham nicht länger zu verdrängen, sondern sie zu erkennen, zu durchfühlen und schrittweise zu integrieren. Ich arbeite mit einer Mischung aus Traumatherapie, Gestalttherapie und körperorientierter Therapie:
- Distanzierung von schädlichen Beziehungen: Kontaktabbruch oder klare Abgrenzung zu Menschen, die Scham auslösen.
- Ich-Struktur stärken: Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls durch positive Erfahrungen und Spiegelung.
- Integration des kindlichen Selbst: Kontaktaufnahme mit den verletzten Anteilen in uns, um alte Verletzungen zu heilen.
- Autonomie-Aufstellungen: Eine lösungsorientierte Methode zur Stärkung der ICH-Struktur, um die innere Identität zu festigen.
Toxische Scham ist häufig tief mit frühen Bindungsverletzungen und Traumata verknüpft. In der Traumatherapie geht es darum, diese Ursprünge zu erkennen und behutsam aufzuarbeiten. Auch die Gestalttherapie bietet einen wichtigen Ansatz. Hier wird toxische Scham als Kontaktunterbrechung verstanden. Der Zugang zum wahren Selbst ist blockiert, stattdessen dominieren verinnerlichte, destruktive Botschaften. In der Körpertherapie liegt der Fokus darauf, verspannte und erstarrte Bereiche zu lockern und die unterdrückten Emotionen durch Atmung, Bewegung und Berührung wieder ins Fließen zu bringen. Ergänzend dazu kann die Autonomie-Aufstellung eingesetzt werden. Sie unterstützt dabei, die innere Struktur zu festigen und das verletzte kindliche Selbst in den gesunden Erwachsenenmodus zu integrieren, ein wesentlicher Schritt zur Heilung von toxischer Scham.
Häufige Fragen bei toxischer Scham
oxische Scham ist ein tiefgreifendes Gefühl von Minderwertigkeit, das unsere Identität und Würde angreift. Sie entsteht in der Kindheit durch Beschämung, Abwertung oder Vernachlässigung und prägt unser Selbstbild negativ.
Schuld bezieht sich auf ein konkretes Verhalten, das wir wiedergutmachen können. Scham hingegen greift unser ganzes Selbst an. Wir fühlen uns grundsätzlich falsch, wertlos oder ungenügend.
Toxische Scham führt dazu, dass wir Nähe vermeiden, uns zurückziehen oder andere abwerten. Sie blockiert lebendigen Kontakt, schwächt unser Selbstwertgefühl und stört die emotionale Verbindung zu anderen und zu uns selbst.
Toxische Scham entsteht in der frühen Kindheit durch fehlende liebevolle Spiegelung, emotionale Vernachlässigung, Demütigung oder Missbrauch. Unerfüllte Grundbedürfnisse führen zu inneren Überzeugungen wie: ‚Ich bin nicht liebenswert‘ oder ‚Ich bin falsch‘.
Die Bearbeitung toxischer Scham erfolgt behutsam über Traumatherapie, Gestalttherapie und körperorientierte Methoden. Wichtige Schritte sind: Stärkung der Ich-Struktur, Distanzierung von schädlichen Beziehungen, Integration verletzter innerer Anteile und Autonomie-Aufstellungen zur Stabilisierung der inneren Identität.